Heimat an der Krippe finden

Heimat an der Krippe finden

Vera Langner
Ein Beitrag von Vera Langner, Evangelische Pfarrerin, Ober-Ramstadt

Gottesdienstübertragung am 2. Weihnachtstag aus der evangelischen Kirche Ober-Ramstadt

Liebe Gemeinde,

Ich steh an deiner Krippen hier, so haben wir es gerade gesungen. Aber er stand nicht an der Krippe. Liebe Gemeinde, liebe Hörerinnen und Hörer, der Mann, der mir im Foyer des Seniorenheims aufgefallen war, er stand nicht, – er saß, – in einem Rollstuhl. Schweigend saß er vor der Krippe mit Heu und Stroh, mit Ochs und Esel, Hirten und Königen, und natürlich mit Maria und Josef und dem Jesuskind in der Krippe.

Er saß da, schaute still und war dabei ganz andächtig. Ich kannte ihn nicht. Ich machte meinen Besuch im 2. Stock des Hauses und wollte dann schnell zurück ans Auto. Es gab ja noch so viel anderes zu erledigen an diesem Tag. Da sah ich ihn immer noch da sitzen. Er hat Ruhe ausgestrahlt. Das, zog mich an. Ich stellte mich neben ihn und schaute mit ihm in die gleiche Richtung.

„Eine schöne Krippe ist das,“ sagte ich und ahnte nicht, dass damit der Anfang gemacht war für ein langes Gespräch. „Ja,“ sagte er. „Das ist ein guter Ort hier. Wie in meiner Kindheit! Echtes Heu und richtiges Stroh. Ich bin auf einem Bauernhof groß geworden, müssen Sie wissen. Eigentlich wollte ich immer gerne Metzger werden. Es gab ja damals nicht viel zu essen nach dem Krieg, aber beim Metzger, da wurde man immer gut satt. So dachte ich, als ich noch jung war und immer Hunger hatte.

Aber dann starb mein Vater, viel zu früh, und ich musste den Hof übernehmen, die Metzgerlehre abbrechen. Da wurde man nicht gefragt. Das war einfach so damals.“ Er machte eine Pause. Trauer und Enttäuschung von damals klangen bis heute noch nach. Aber dann hat er mir weiter erzählt aus seinem Leben, und wie er es gemeistert hatte, gemeinsam mit seiner Frau und den Kindern. Aus denen allen war was geworden. Auch von den Enkeln erzählte er stolz.

„Jetzt ist meine Frau schon fast ein Jahr lang tot. Weihnachten ist nicht mehr so wie früher. Ich bin hier im Heim seit Sommer und es ist nicht leicht. Aber es geht nicht anders. Zuhause alleine konnte ich nicht mehr sein, und die Kinder sind ja auch alle voll berufstätig“, stellte er fest.

„Und nun sitzen Sie hier vor der Krippe und können über ihr ganzes Leben erzählen“, sagte ich und war erstaunt über das Vertrauen, das er mir schenkte, ohne dass wir uns kannten. „Ja, das tut gut“, sagte er.

In unserem Gespräch war für mich die Zeit stehen geblieben und ich konnte selbst Ruhe finden vor der Krippe und neben ihm. Für ihn hatte sich die Zeit noch einmal entfaltet im Rückblick auf ein langes Leben. Hatte das Kind in der Krippe etwas damit zu tun?

Das Kind in der Krippe. Hat es etwas zu tun mit diesem alten Mann im Rollstuhl? Mit seiner Lebensgeschichte, mit meiner Lebensgeschichte? Mit unserer Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit? Mit unseren Enttäuschungen? Weihnachten ist immer auch Krisenzeit.

Die Bilder vom Jesuskind in der Krippe, die heilige Familie, der Stern über dem Stall, die Engel und Könige in ihrem Glanz und die einfachen Hirten, – das alles sind starke Bilder. In ihnen spiegelt sich, was wir ersehnen. Und wo wir enttäuscht sind. Manchmal ist es deshalb gar nicht so einfach, Weihnachten richtig zu feiern.

Mir haben schon Leute gesagt: Weihnachten, das fängt für mich erst richtig an am Zweiten Feiertag. Dann hat man den Stress vom Heilig Abend und vom ersten Feiertag mit Schwiegermutter und Enkelkindern schon hinter sich.

Ja, auch ich bin froh, dass es drei Feiertage gibt, dem Geheimnis dieses göttlichen Kindes auf die Spur zu kommen. Es gibt uns die Möglichkeit, auch über Umwege noch ans Ziel zu gelangen.

So war es doch schließlich auch bei den weisen Sterndeutern aus dem Osten gewesen. Sie waren freudig aufgebrochen. Der Stern hat sie geleitet. Sie haben gehofft, dass im jüdischen Land ein neuer König geboren ist. Sie verlassen ihre Heimat, folgen dem Stern in fremdes Land, aber kommen nicht gradlinig an ihr Ziel. Was für ein Frust, wie enttäuscht sind sie nach so einem langen Weg. Keiner weiß was von einem neugeborenen Kind am Königshof. Da gerät die Hoffnung in eine Krise. Da ist der Stern nicht mehr zu sehen. Wolken des Zweifels verdunkeln ihn.

Nur die Schriftgelehrten, die sie fragen, haben noch eine Idee. Bethlehem könnte es sein. Die Menschen damals nahmen die Worte der Heiligen Schrift ernst als Wegweisung. Und dann ist er wieder da, der Stern, und mit ihm eine tiefe Freude bei den Männern aus den fernen Ländern. Als sie den Stern sahen, wurden sie von sehr großer Freude erfüllt, heißt es im Bibeltext. Sie waren durch die Krise hindurch doch noch am Ziel angekommen.

Ich glaube, auch wir sind am Ziel, wenn eine tiefe Freude uns erfüllt über das neue Leben, das uns verheißen ist. Diese Freude habe ich bei dem Mann gespürt, den ich im Altenheim vor der Krippe begegnet bin.

Wer so froh ist, dem fällt es leicht, das loszulassen und weiterzugeben, was er an Kostbarem mitgenommen hat auf den Weg. Gold, Weihrauch und Myrre haben wir in der Regel nicht dabei, – aber Lebenserfahrung, Lebensgeschichten, Schönes und Schweres. Wir geben Gott die Ehre, wenn wir ihm das alles zu Füßen legen an der Krippe. Ja, du bist König des Lebens, kleines Kind in der Krippe. Die Weisen aus dem Osten knien nieder und verneigen sich vor dir. Der Mann im Rollstuhl schöpft bei dir neuen Lebensmut. Die unruhige Pfarrerin kommt bei dir zur Ruhe.

Demütig erkennen und erleben wir, was das Leben froh macht. Es gibt aber auch Momente, wo mit Blick auf die Weihnachtsfreude alles durcheinandergeht und trotzdem noch gut wird. Davon gleich nach der Musik von Joseph Hadyn mehr.

An der Krippe sein, froh werden, das kann Ruhe und Freude schenken. Es kann aber auch schon mal alles durcheinanderbringen. In unserer Familie haben wir das 1989 erlebt. Die Mauer in Deutschland war gerade gefallen, die Menschen aus dem Osten strömten nach Westen, bekamen Begrüßungsgeld und freuten sich über die neue Freiheit. Die Lufthansa hatte zwei Maschinen für Freiflüge zur Verfügung gestellt. Menschen aus Leipziger Kirchengemeinden durften nach Frankfurt fliegen. Die zweite Maschine sollte dort am 24. Dezember landen. Es wurden kurzfristig Privatquartiere gesucht. Für drei Tage kamen die Gäste aus Leipzig. Die Freude über den Mauerfall war überall groß, auch die Gastfreundschaft wäre normalerweise keine Problem gewesen, – aber ausgerechnet über Weihnachten? Auch wir hatten keinen Platz. Den Heiligen Abend wollten wir mit Freuden verbringen, Die hatten zwei kleine Kinder wie wir. Meine Freundin und ich waren beide noch dazu hoch schwanger. Fremde Gäste, – nein, das ging beim besten Willen nicht mehr!

Es gab ja schließlich genug ältere Leute in unserer Stadt, die mehr Platz hatten, mehr Zeit und mehr Ruhe als wir. So war der Fall für mich erledigt gewesen.

Aber dann kam der 23. Dezember und es hieß: Wir haben immer noch kein Quartier für eine Familie mit Kind. „Kein Raum in der Herberge“, – biblische Worte der Weihnachtsgeschichte. Konnte es sein, dass diese Menschen nach einem langen und gefährlichen Kampf gegen die Diktatur nun bei uns im freien Westen keine Herberge fanden, abgewiesen wurden wie Maria und Josef damals?

Ich telefonierte mit meiner Freundin. Innerhalb von zehn Minuten hatten wir alles besprochen. Wir wollten zu unserer gemeinsamen Weihnachtsfeier die unbekannten Gäste einladen, Essen; Geschirr und zusätzliche Stühle organisieren, provisorische Schlafgelegenheiten einrichten und einfach offen sein, für das was kommt.

Es wurde am Ende das schönste Weihnachtsfest, das ich je erlebt habe. Die Gäste mit ihrem achtjährigen Sohn waren so dankbar und so hilfsbereit. Sie waren völlig unkompliziert und mit allem zufrieden. Wir haben viel und herzlich gelacht miteinander über uns und diese außergewöhnliche Situation.

Die Weihnachtsbotschaft war bei uns angekommen. Fürchtet euch nicht! Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk wiederfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Ja, wir hatten die Angst vor fremden Leuten und noch dazu unterm Weihnachtsbaum, tatsächlich ablegen können. Wir rückten enger zusammen, erzählten uns Geschichten, – sie über den Alltag in Leipzig und wir von uns als Familie im Westen. Wir staunten über die Unterschiede und spürten doch auch das, was uns verbindet. Bis tief in die Nacht saßen wir zusammen. Die Kinder waren auf irgendwelchen Kissen ruhig eingeschlafen.

Heimat finden an der Krippe. Sie verbindet uns über Grenzen hinweg und macht uns mutig, Neues zu wagen. Das hat etwas mit dem Kind in der Krippe zu tun. Jesus ist der Christus, der Heiland, Gottes menschgewordene Liebe. Sie begegnet uns bis heute in jedem Menschen, der unsere Hilfe braucht.

Amen

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