Karfreitagsgottesdienst

Karfreitagsgottesdienst

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Zur Konfirmation habe ich eine Kette mit einem kleinen goldenen Kreuz bekommen. Von meiner geliebten Großmutter. Seitdem trage ich dieses Kreuz. Es gehört einfach zu mir. Ein Kreuz zu tragen oder ein Kreuz zu sehen, zum Beispiel in einer Kirche, für viele von uns ist das selbstverständlich.

Dass das auch anders sein kann, habe ich auf einer Bahnfahrt erfahren. Mir gegenüber saß eine junge Frau. Wir waren allein im Abteil und kamen ins Gespräch. Schnell war klar: Ich bin Pfarrerin. Die junge Frau hat mich interessiert angeschaut und ist dann gleich mit ihrer Frage herausgerückt: „Also, endlich treffe mich mal jemand, den ich fragen kann. Ich kenne mich mit Kirche überhaupt nicht aus. Ich komme aus dem Osten. Aber ich frage mich, wieso ausgerechnet das Kreuz das Symbol für die Kirche und für Gott ist. Hätte ja auch ein Kreis oder ein Herz oder so etwas sein können. Ein Kreuz ist doch irgendwie gruselig und gewalttätig. Steht für Tod und Folter. Also wieso gerade das Kreuz?“

Ich weiß gar nicht mehr genau, was ich geantwortet habe damals. Ich weiß nur noch, dass ich ziemlich ins Stottern geraten bin. Das Kreuz war tatsächlich eine besonders grausame Hinrichtungsart für Verbrecher damals. Der Tod wurde über Stunden hinausgezögert. Jesus hat also einen grausamen Tod erlebt. Er hat sich wahrscheinlich hilflos und ohnmächtig gefühlt. Er hat sogar gerufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Damit sagt er doch selbst: „Ich bin gescheitert.“  Nach meiner Bahnfahrt habe ich die Kette mit dem Kreuz einige Zeit nicht getragen. Denn ich habe mich der jungen Frau im Zug und ihren Fragen zum Kreuz sehr nah gefühlt.

Die ersten Christinnen und Christen kannten diese Fragen gut. Bei sich selbst und bei anderen. Das Verehren des Kreuzes war scheinbar gegen jeden Verstand. Warum jemanden verehren, der so sichtbar gescheitert ist? Das Kreuz – ein Symbol des Scheiterns? Der große Missionar Paulus hat das Kreuz trotzdem zum zentralen Thema seiner Predigten gemacht. Er hat behauptet: Das Reden vom Kreuz gibt Stärke und Rückhalt. Wie passt das zusammen? „Wieso ist ausgerechnet das Kreuz das Zeichen für  Christinnen und Christen?“, hat die junge Frau auf der Zugfahrt gefragt. „Was sagt mir das Kreuz?“, frage ich mich. Kann man jemanden verehren, der gescheitert ist? Ja. Ich glaube, Ja.

Du kannst nämlich nicht verhindern zu scheitern. Und das Gelingen des Lebens hat niemand selbst in der Hand. Meine Freundin zum Beispiel isst Haferkleie zum Frühstück. Jeden Morgen drei Esslöffel in lauwarmem Wasser. Schon ihre Mutter hat das so gemacht. Sie sagt: „Wenn du täglich Haferkleie isst, bekommst du keinen Darmkrebs!“ Eine Zeit lang habe ich es auch versucht. Aber es schmeckt erbärmlich. Jetzt lasse ich es wieder, habe aber irgendwie ein schlechtes Gewissen.

Ich frage mich: Wie kann ich gut für mein Leben sorgen? Was kann ich verhindern, was nicht? Ich denke an die Frau, die schwer an Krebs erkrankt ist. Immer wieder überlegt sie: „Warum gerade ich? Ich habe mich immer gesund ernährt und bin Fahrrad gefahren und gewandert. Ich rauche nicht, ich trinke nicht. Ich habe niemandem etwas zuleide getan. Warum ich?“ Automatisch stellt sie sich die Frage, ob sie alles richtig gemacht hat in ihrem Leben. Wenn etwas schief läuft, ist Ursachen-Forschung sinnvoll: Was ist mein Anteil daran? Es ist gut und richtig, zu merken, dass ich viel in meinem Leben selbst beeinflussen kann. Ich kann etwas für meine Gesundheit tun, ich kann versuchen, Stress abzubauen. Nach dem Motto: „Wer gesund lebt, wird nicht krank.“

Manche Dinge im Leben kann ich aber nicht ändern, so wie eine Krebserkrankung. Wie schlimm ist es, dass diese kranke Frau sich selbst auch noch Vorwürfe macht und denkt: „Ich habe etwas falsch gemacht.“ Andere Dinge kann ich versuchen zu beeinflussen. Wenn ich nachts zum Beispiel mal ein paar Stunden wach liege, geht mir durch den Kopf, was ich an Problemen und Baustellen habe. Dann schlafe ich schlecht. Morgens am Frühstückstisch sagt mein Mann: „Du hast aber auch wieder bis kurz vor dem Schlafengehen vor dem Rechner gesessen – da könnte ich auch nicht abschalten!“ Ja, da kann ich tatsächlich etwas ändern.

Auf der anderen Seite: Selbst wenn ich alles richtig mache und jeden guten Tipp verfolge, ist das keine Garantie für Gesundheit und ein glückliches Leben. Ich habe zwei innere Stimmen in mir. Die eine sagt: „Pass auf dich auf! Mach etwas aus deinem Leben! Tu alles, damit dein Leben lebenswert ist!“ Diese Stimme motiviert mich. Sie setzt mich aber auch unter Druck. Meine Leistung, mein Erfolg zählen. Meine Krankheit und meine Niederlagen, für alles bin ich selbst verantwortlich. Ich muss mein Leben optimieren. Ich stehe unter Lebensleistungsdruck. Von nichts kommt nichts.

Die andere Stimme in mir wehrt sich und sagt: „Was soll ich denn noch alles machen und leisten? Es gibt kein perfektes Glücksrezept. Es gibt keinen perfekten Ratgeber gegen Krankheit. Wie schlimm, wenn ich in Krisen und Krankheit auch noch vorgeworfen bekomme: Du hast alles selbst in der Hand!“ Meinen Anteil an Glück und Erfolg, an Gesundheit und gelingenden Beziehungen – ich kann ihn nicht genau bestimmen. Sind es 30% oder 70%, die ich selbst in der Hand habe? Und der Rest: Ist da Gott im Spiel? Bekomme ich, was ich will, wenn ich nur genug bete?

Das hieße im Umkehrschluss: Wenn etwas schief läuft, hat man nicht genug gebetet! Von nichts kommt nichts. Ja, das stimmt. Aber irgendwie stimmt es auch nicht. Ich glaube und hoffe, dass es bei Gott anders läuft. Das Kreuz zeigt mir: „Du kannst nicht alles hundertprozentig richtig machen. Du hast dein Leben nicht in der Hand.“ Aber es bedeutet mir noch mehr. Das Kreuz erzählt von Jesus und seinem Leben und von seinem Tod.

Jesus hat ziemlich viel richtig und gut gemacht in seinem Leben. Nicht, weil er so viele Wunder getan hat. Nicht, weil er so viel gebetet hat. Das meine ich nicht. Aber: Jesus war im Reinen mit sich. Er war ganz bei sich, er war er selbst. Und trotzdem war er auch ganz für andere da, ohne sich dabei aufzugeben. Und er war offen für Gott, für den Himmel. Ein gutes Gleichgewicht, ein Beispiel für Gerechtigkeit. Auch in der Zeit damals gab es die Vorstellung: „Wer gerecht ist, wer glaubt, den trifft kein Unglück, dem kann nichts schaden. Von nichts kommt nichts.“

Am Kreuz wird deutlich: Jesus hat alles richtig gemacht. Und trotzdem gerät er unverschuldet in großes Leid: Er stirbt allein. Viele sehen ihn als gescheitert an. Da erkennt ein Außenstehender die Tragweite des Moments. Der römische Hauptmann, der gerade noch an der Hinrichtung beteiligt war, sagt: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen! Wahrlich, gerade in diesem Scheitern und Leid ist Gott besonders nah!“

Das Reden vom Kreuz gibt Stärke und Rückhalt, sagt Paulus. Warum eigentlich? Mit dem Kreuz durchkreuzt Gott die Vorstellung: „Von nichts kommt nichts.“ Mit dem Kreuz sagt Gott mir: „Bei mir läuft es anders. Ich bin in Niederlagen und Scheitern bei dir. Du musst dich dafür nicht schämen. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Es ist nicht deine Schuld. Du musst dein Leben nicht allein managen und optimieren!“

Wenn Gott mir sagt: „Du musst dich nicht schämen, du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen!“ Dann lohnt es sich, andere, denen ich begegne, genauer anzuschauen und nicht zu schnell zu beurteilen, ob er oder sie gescheitert ist oder Erfolg hat. Die schwer Kranke, die zu schwach ist, um am Leben teilzunehmen, und der Jugendliche, der einen Brand gelegt hat: Sie sind bei mir nicht abgeschrieben. Gott scheint auch da hindurch.

Die 75jährige Erna Winkler zum Beispiel setzt sich seit zehn Jahren ehrenamtlich für Obdachlose ein. Als die Wärmestube der Kirchengemeinde eröffnet wurde, bat sie der Pfarrer um Mithilfe. Erna Winkler hat die Obdachlosen mit Kuchen oder Schmalzbroten versorgt. „Dabei haben wir uns über ihre Probleme unterhalten\", erzählt sie. Sie berichtet weiter: „Als ich vor zwei Jahren im Zentralklinikum lag, besuchten mich einige meiner obdachlosen Freunde. Sie sind den weiten Weg zu Fuß gelaufen, weil sie kein Geld für den Bus hatten.“

Erna Winkler hat sich und diese Menschen alle auf einer Augenhöhe gesehen. „Denn run­ter kommt man schneller als wieder herauf.\" Sagt sie. Sie hat bei den Leidenden nach Gottes Glanz gesucht und ihn gefunden. Den Glanz Gottes in der Gosse zu sehen, diesen Blick haben manche so in sich drin, dass sie anpacken und etwas tun. So wie Erna Winkler eben.

Das kleine Kreuz von meiner Großmutter - heute trage ich das Kreuz an der Kette wieder gern.  Denn das Kreuz hat eine starke Botschaft. Natürlich: Wenn ich über den Sinn des Kreuzes rede, bleibt es bei einem Stottern. Aber irgendwie zeigt mir das Kreuz, dass ich nicht alles selbst in der Hand habe. Und es zeigt mir: Gott ist an meiner Seite, gerade dann, wenn ich Angst habe oder verzweifelt bin. Gott ist bei allen, die leiden. Und das gibt mir Rückhalt und Stärke. Amen.

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