Der größte Traum eines Menschen
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Der größte Traum eines Menschen

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel

Der größte Traum eines Menschen – nein, ist nicht der Lottogewinn, wohl auch nicht die Weltreise oder das Eigenheim. Das sind Wünsche. Der größte Traum aber verbirgt sich in der Geschichte von Mosche, dem jüdischen Quälgeist.* Jahrelang zieht er durch die Gegend und preist sein Buch an. Tausend Seiten hat er geschrieben, und zwar wirr und schlecht. Die Welt steht Kopf, behauptet Mosche, wenn sein Buch gedruckt wird. Aber keiner druckt es, weil es nur verworren ist. Dann läuft er von Zuhause weg, verlässt Frau und Kinder und schreibt ein noch dickeres Buch, das erst recht keiner drucken und lesen will. Die Welt verliert den Wirrkopf aus den Augen. Und Mosche verliert die Welt, denkt man. Bis man eines Tages, nach dem 2. Weltkrieg, eine unfassbare Geschichte hört vom verrückten Mosche. Er war im jüdischen Ghetto in Warschau. Unter Lebensgefahr hat er Post geschmuggelt: aus dem Ghetto heraus und von draußen wieder hinein. Man nannte ihn einen „heiligen Boten“. Zwei Jahre macht er das. Dann wird er von deutschen Soldaten entdeckt, gefoltert und getötet, der treue Mosche. Der das erzählt, gesteht dann seinen größten Traum: Es muss im Himmel einen Ort gebe, eine Art Archiv, in dem aller Schmerz der Menschen aufgehoben wird – dazu jede Tat der Liebe, jedes Opfer für andere. Das muss es einfach geben, sonst kann ja Gott am Ende der Tage nicht gerecht urteilen.

Davon träume ich auch. Es muss einen Ort geben, an dem alles aufbewahrt wird, was Menschen Gutes tun oder erleiden. Das Leben ich nicht gerecht. Aber Gott ist gerecht. Jede Liebe, jeder Dienst für andere, jede offene Wunde eines Lebens wird aufgehoben wie in einem Archiv. Eines Tages dann, wenn Gott will, steht jeder Mensch vor ihm. Und darf antworten auf die Frage: Wie hast du gelebt mit anderen Menschen – warst du ein Glück für sie? Dann zeigt sich, was Gott von mir denkt. Er hat das letzte Wort. Über uns und alles.

 

nach der Geschichte von Isaac B. Singer (1902 – 1991, Literaturnobelpreis 1978): „Wozu wurde Heuschreck geboren?“ (in: Ein Tag des Glücks, Hanser Verlag, München)

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