
Versuch über den Gottesblick
Da ist zum Beispiel ist Fredy. Mein Vorbild. Er ist schon lange tot, hat aber mal einen Satz gesagt, den ich nicht vergesse. Fredy war Buchhalter in einer Fabrik, jeden Tag pünktlich und fleißig. Viel Papier ging durch seine Hände, viele Menschen lebten von seiner Sorgfalt. Wenn er Fehler machte, schob er das nicht auf andere. Als ich mal bei ihm zu Besuch bin, sagt er ganz nebenbei: Der erste Blick sieht, der zweite erkennt.
Wenn ich an Fredy denke, sehe ich ihn im Sessel sitzen mit seinem offenen Hemd, auch im Winter. Und wie er sagt: Der erste Blick sieht, der zweite erkennt. Ein Vorbild an Weisheit. Der erste Blick genügt nicht, so schön er auch ist. Liebe auf den ersten Blick, ja vielleicht. Ärger beim ersten Anblick eines Kollegen, möglich. Zweifel an der Liebe Gottes, natürlich. Der erste Blick aber ist zu wenig, auch wenn er gefällt. In der Liebe, beim Ärger oder im Zweifel. Nur der zweite Blick erkennt wirklich.
Der zweite Blick sieht unter die Oberfläche, schiebt die Fassade beiseite, schaut auch in dunkle Ecken. Was da zum Vorschein kommt, ist oft anders. Was man sieht, kann geschönt sein. Was man erkennt, ist meist ehrlicher. Hinter ihren Fassaden, dem Schmuck und der Kleidung sind Menschen aufrichtiger. Unter der Oberfläche verbergen sich Sehnsucht, Angst und manche Traurigkeit der Seele. Da will ich dem ersten Blick lieber nicht zu viel Bedeutung geben. Der zweite Blick ist der Gottesblick, sozusagen. Er traut meiner Oberfläche nicht. Lässt sich nicht blenden. Sieht immer genau hin. Zum Glück. Ein Mensch neigt zum Vormachen, will viel scheinen. Das soll helfen im Leben. In Wahrheit verhindert es doch. Gut also, wenn Gott zweimal hinschaut. Und erkennt, wie ich bin: wohl eher kleinlaut, besorgt, zögerlich. Das ist doch nicht schlimm. Hauptsache, ich vertraue ihm trotzdem. Vertrauen macht alles leichter. Zuerst die Ehrlichkeit.