Aber ich lebe doch so gern. Christoph Schlingensiefs öffentliches Sterben
Musikkonzeption: Burkhard Jungcurt
Zitat:
Nicht zuletzt wünsche ich der Kirche, dass sie aufhört, uns mit den Geheimnissen des Jenseits unter Druck zu setzen. Das Leben ist zu schön, um uns Menschen permanent mit dem kommenden Unglück zu drohen. Gottes Liebe und Hilfe – egal wer wir auch sein mögen – sind keine Beziehungsdrops. Die Liebe Gottes manifestiert sich vor allem in der Liebe zu uns selbst! In der Fähigkeit, sich selbst in seiner Eigenart lieben zu dürfen, und nicht nur in dem, was wir uns ständig anund umhängen, um uns zu beweisen, dass wir wertvoll, klug, hübsch, erfolgreich sind. Nein! Wir sind ganz einfach wunderbar. Also lieben wir uns mal selbst. Gott kann nichts Besseres passieren.“
(S. 10/11)
Wer reibt sich hier an der Kirche? Und bleibt doch dabei, dass ein Verhältnis besteht zwischen Gott und seinen Geschöpfen?
Der Künstler Christoph Schlingensief, an dessen öffentlichem Sterben die Gesellschaft zwischen 2008 und 2010 in vielfältiger Form Anteil nahm – und Anteil nehmen sollte. Nicht um ihm die Hand zu halten, sondern um zu begreifen: Das Leben ist schön. Du bist einzigartig. Unter der Sonne zu sein, ist das Geschenk, das Gott Dir gemacht hat, schöpfe es aus bis zum letzten Atemzug. Denn: „So schön wie hier kann es im Himmel gar nicht sein.“
Unter diesem Titel hat Christoph Schlingensief 2009 ein Buch veröffentlicht, mit dem er Tausende von Lesern erreichte, denen der Provokateur des Kunstbetriebs bis dahin unbekannt oder gleichgültig war.
Denn hier sprach nicht der Rebell und mediale Tausendsassa, der es in einer rasanten Karriere vom Underground-Filmer bis ins Bayreuther Festspielhaus geschafft hatte, sondern ein geschockter Menschenbruder.
Auf der Höhe seines Lebens und seines Ruhmes, mit 47 Jahren, wird Christoph Schlingensief mit der Diagnose Lungenkrebs konfrontiert und durchläuft dann den ganzen Leidensweg, von der Operation über die Chemo bis zur Entlassung mit dem Hinweis auf nur noch sehr begrenzte Lebenserwartung. Den Leidensweg, den viele Krebspatienten kennen und den wir alle so fürchten.
Wie reagiert er in dieser Situation? Er muss reden. reden, reden. Wer redet ist nicht tot.
Jeden Abend, bei abgedunkeltem Licht im Krankenhausbett, an Schlauchen hängend, geschwächt und aber nicht willenlos, kotzt er seine Ängste, seine Hoffnungen, seine Bedürftigkeit, seine Zukunftsträume, seine Wut – in ein kleines Diktiergerät. Ungefiltert. Ungeschützt. Emotional – und doch von einer stürmischen Denkbewegung erfasst..
Daraus wurde ein nun in Buchform vorliegendes Krebstagebuch, in dem es wie immer bei Schlingensief um Alles geht: ums pralle Leben, die nackte Angst, die große Liebe und die Auseinandersetzung mit einem Gottesbild, das ihm zerbricht und das er suchend dennoch immer wieder umkreist.
Dieses anrührende Selbstzeugnis ist der Impulsgeber für die heutige Morgenfeier.
Musik
Christoph Schlingensief wurde 1960 als Sohn eines Apothekers und einer Kinderkrankenschwester in Oberhausen geboren. Die Eltern waren streng katholisch und der reizende Junge mit dem entwaffnenden Lächeln, der mit zweitem Namen Maria hieß, versah in der benachbarten Herz-Jesu-Kirche 12 Jahre lang das Amt des Messdieners. Danach wusste er, was Inszenierungen sind und hatte Erfahrung mit öffentlichen Auftritten. Ein gehorsamer Sohn seiner Kirche freilich war er danach nicht mehr.
Warum nimmt sich eine Evangelische Morgenfeier der religiösen Fragen eines entlaufenen Katholiken an?
Weil in einer existentiellen Krise die konfessionellen Unterschiede gleichgültig werden. Es geht nicht mehr um kirchliche Lehre, um Dogmatik, um das Trennende zwischen den Konfessionen, sondern nur noch darum: was bleibt vom Christentum als Halteseil in den Händen eines Verzweifelten. Nur darum geht es.
Am Anfang, in Erwartung der Diagnose, versucht der Patient Christoph Schlingensief es mit den erlernten Ritualen.
Zitat:
Gestern Abend habe ich noch gebetet. Das habe ich ewig nicht mehr gemacht, Wobei mir vor allem das leise Sprechen, das Flüstern mit den Händen vorm Gesicht gut getan hat, so wie nach dem Empfang der Hostie, wenn man bei sich ist und den eigenen Atem hört und spürt. Ich habe mir selbst zugehört, die Angst in meiner Stimme gehört. Einen Moment zu haben, wo nicht alles schon wieder auf der Bühne oder auch im Leben ausgesprochen ist, so eine Grenze, eine Hemmung zu spüren, ist ganz wichtig und richtig.“
(S. 19)
Er greift nach Büchern. Kauft sich das Buch eines protestantischen Theologen, der in Taschenbuchformat zusammenfasst was man wirklich über die Bibel wissen muss. Liest die Gespräche nach, die ein katholischer Geistlicher mit Joseph Beuys führte, ein Künstler, dem der sich verwandt fühlt. Wie Schlingensief hatte auch Joseph Beuys Respekt vor allem Geschaffenen, auch vor dem Krummen und Dummen. „Jeder Mensch ist ein Künstler“ war ein berühmt gewordener Glaubenssatz von ihm.
Wie Beuys steht auch Schlingensief nicht auf Seiten der Sieger, sondern bringt in seinen Aktionen und Inszenierungen immer wieder auch die Mühseligen und Beladenen auf die Bühne. Behinderte, Obdachlose, Ausgegrenzte, die er zum Entsetzen der Portiers dann zu den Buffets einlädt, die ihm zu Ehren nach Premieren in den großen Hotels ausgerichtet wurden.
Aber das ist der Glanz von gestern. Heute, zu Zeiten des Krebstagebuchs, im Januar 2008, wartet Schlingensief angstvoll auf das Urteil, die endgültige Krebsdiagnose.
Zitat:
Heute Morgen bin ich von Geräuschen draußen auf dem Gang wach geworden und habe noch ein bisschen im Dunkeln gelegen. Da merkt man, wie einem wieder die Angst in die Knochen schießt, dass das der Tag sein könnte, an dem entschieden wird, ob ich diesen Leidensweg gehen muss.. Ich überlege auch, ob ich mir noch was gegen die Angst geben lasse, wenigstens für heute... Dann denke ich wieder an Jesus, der beim letzten Abendmahl schon gewusst hat, dass er verraten wird, dass er den Weg zum Kreuz gehen muss. Das ist hier natürlich kein Verrat, aber doch ein Gang der quält...
(S. 19)
Wie sehr er quält, wird deutlich als er sich mit Freunden noch einmal zum Pizza-Essen trifft.
Zitat:
Und dann bricht plötzlich das Weinen aus, Kein Weinen, wo man bemitleidet werden will, sondern ein unglaublich trauriges Weinen, so ein Trauerweinen, wo man eine Ahnung davon kriegt, dass das alles ja nicht immer so sein wird, dass das ja vorbeigeht. Aber ich lebe doch so gern.“
(S. 29/30)
Musik
Ob Christoph Schlingensief den Punkt des Einverständnisses mit seiner Endlichkeit je erreicht hat, weiß ich nicht. Denn dieser Künstler war ein leidenschaftlicher, ja unersättlicher Liebhaber des Lebens.
Wie ein offenes Gefäß sammelte er Leben in all seinen Schattierungen in sich hinein und speiste damit seinen Ausdruckswillen. Sein Markenzeichen war die verstörende Vermischung aller medialen Ausdrucksformen und die Weigerung, eine Grenze zwischen Kunst und Leben zu ziehen. Als Künstler bestand er auf absoluter Autonomie. Als Mensch wusste er um seine Abhängigkeit von Liebe, Zuwendung, Fürsorge, Freundschaft. Er brauchte Menschen um sich und träumte dabei vom Glück des Alleinseins.
Aus solchen Widersprüchen bestand der ganze Schlingensief und er trug sie offen vor sich her wie ein Kind. Wie ein Kind hatte er sich auf seinem fast rauschhaften Lebensweg auch von Gott behütet und geliebt gefühlt.
Als ihm die Diagnose mitgeteilt wurde, – Adenokarzinom, Lungenkrebs, bitte keine langfristigen Pläne mehr, – brachen diese Sicherheiten zusammen:
Zitat:
Das passt doch nicht. Das ist doch alles nicht zu fassen! Wie soll ich es denn schaffen, dieses Grauen zu akzeptieren und mir zu sagen: Ja, Christoph, das bist jetzt du. Du wirst gerade zerlegt, löst dich in Wurmscheiße auf! Hast 47 Jahre lang Schwachsinn angerührt, das ist ziemlich üppig, damit ließen sich drei Leben füllen, jetzt wirst du halt aufgefressen. Was das sollte, hast du selbst nicht herausbekommen. Aber das hast du herausbekommen, dass Du zerstörbar bist. Das hast du am Schluss bis in die letzte Ader gespürt.
(S. 49/50)
Und damit kippt auch sein Gottesbild:
Zitat
Ich dachte, dass ich im Kern beschützt bin. Von Gottes Gnaden behütet, belohnt mit Tausenden von Möglichkeiten, gesegnet mit einem langen Leben, mit vielen vielen Dingen, Bildern, Fragen, Antworten... Und das, lieber Gott, ist die größte Enttäuschung. Dass du so ein Glückskind einfach zertrittst, du bist jedenfalls gerade dabei das zu tun. Und die andern Leute, die an dich glauben, die zertrittst du auch... Pure Ignoranz ist das. Gott sagt einfach, was du da machst, interessiert mich nicht, ist mir egal...
(S. 52/53)
Die Enttäuschung über den „Lieben Gott“ schlägt um in Wut auf die Institution, die ihm, wie er meint, dieses Gottesbild vermittelt hat. Schluss soll jetzt sein mit dem „ganzen christlichen Schmier“.
Zitat:
Man muss doch irgendwie dafür sorgen, dass all das alberne Geschwafel über Gott, Jesus und noch ein paar Damen aufhört. Damit wir begreifen lernen, dass es im Kern um eine Beziehung zum Leben geht, die auch den Tod integriert, die auch das Scheitern mit einbezieht... Lieber Gott, ich würde so gern sagen, dass ich auf dich und deine Leute scheisse. Aber das schaffe ich nicht. Noch nicht.
(S. 56)
Der vom Schicksal Geschlagene durchlauft nun alle Stadien der Gottesferne.
Zitat:
Ach, ich bin leer, ich bin tot, ich bin aus. Flamme aus. Vorher aber noch die große Erleuchtung. Jesus hat sich mir, Christoph Schlingensief, in der Kapelle gezeigt, indem er mich verstummen ließ und plötzlich wurde alles warm. Ja, super, Du Leidensbeauftragter!
Das war ein schönes Erlebnis, das kann ich nicht abstreiten. Aber Jesus ist trotzdem nicht da. Und Gott ist auch nicht da. Und Mutter Maria ist auch nicht da. Es ist alles ganz kalt. Es ist keiner mehr da. Alles ist tot. Und es ist gut, dass es so ist. Ich will wenigstens einmal ganz alleine sein. Ich habe das Recht dazu! Das Recht habe ich! Alleine sein...
(S. 71)
Schlingensief ist ein schwieriger, ein hochsensibler Krebspatient. Er leidet an dem entmündigenden System Krankenhaus. Akzeptiert die ärztlichen Autoritäten nur, wenn er sie auch als Mensch akzeptieren kann. Entwirft sich in die Zukunft. Heiratet nach OP und Chemo seine große Liebe, obwohl man ihm nur noch Hoffnung auf sechs Monate Lebenszeit machen kann. Reist nach Afrika, kämpft für sein Projekt eines Opernhauses in Burkina Faso, sein Vermächtnis. Stellt seine eigene Ängste auf die Bühne und lässt für die Inszenierung die ihm vertraute Herz-Jesu-Kirche aus Oberhausen nachbauen. Er bleibt in Distanz zur Institution...
Zitat:
Aber eins ist klar: ich bin kein Atheist. Und ich kann jetzt auch nicht sagen, na gut, das Universum ist irgendwie so etwas Höheres. Nee, ich brauche das konkreter. Mit Maria, Jesus und Gott, mit diesen dreien, möchte ich auf alle Fälle weiterleben. Das ist die Hauptsache. Die genaue Differenzierung der drei ist nicht so wichtig, da fängt man schnell an, sich zu widersprechen. Das Wichtigste ist jetzt erst mal, dass ich mit ihnen meinen Frieden habe.“
Musik
Die theologisch Gebildeten unter meinen Zuhörern werden wahrscheinlich schon lange die Hände ringen und sagen: So geht das nicht! Solche selbstgestrickten Glaubensaussagen und Wutausbrüche gegen Gott und Kirche, haben doch in einer evangelischen Morgenfeier nichts zu suchen.
Ich halte dagegen: Aus eben diesem gärenden Gemisch besteht gelebter Glaube. Nicht aus der braven Wiederholung theologisch abgesicherter Formeln. Die Realität ist das Stammeln. Der verzweifelte Versuch des Einzelnen, mit Gott auf Augenhöhe zu reden und doch um die eigene Ohnmacht zu wissen.
Wem sein Leben gerade zerbricht, der hat das Recht zu beidem: seinen Kinderglauben radikal über Bord zu werfen und doch wie ein Ertrinkender nach den Planken dieses zerbrochenen Glaubens zu greifen,
Ein Gott, der diesen Widerspruch nicht aushält, wäre ein Götze. Eine Kirche, die nicht anerkennt, dass dies gelebte Realität ist, hätte der Liebe nicht und wäre ein tönend Erz oder eine klingende Schelle, um es mit den Worten aus dem Korintherbrief zu sagen.
Christoph Schlingensief ist kein Theologe. Er ist aufgewachsen mit einem Bild vom lieben Gott, das der Realität nicht standhält und mit dem er sich nun, angesichts tödlicher Bedrohung, geradezu verzweifelt herumschlägt.
Zitat:
„Natürlich gibt es Leute, die einfach so cool herumliegen. Kompliment. Aber mich beschäftigen diese Verbindungen zur Welt über mir, sie wühlen mich auf und ich spüre, dass da in mir wieder etwas auftaucht, was ich vergraben hatte.“
Seiner Freundin, der Schauspielerin Aino Laberenz, versucht er zu erklären, wonach er da sucht und was, so wörtlich, „seine drei Leute da oben“, für ihn bedeuten. Maria, ist für ihn „die Begleiterin durch den dunklen Gedankenwald“, sie steht für Geborgenheit und Liebe. Gott ist das schöpferische Prinzip, das alles mit allem verbindet. Schwieriger wird es mit Jesus, der, wie Schlingensief sich ausdrückt, das „Leidwesen“ in die christliche Religion hineingebracht hat und dessen Weg ihn mit der Fragen konfrontiert, ob das Leiden dieses Jesus Christus vielleicht auch etwas Sinnvolles in die Welt trägt, es also etwas Gutes bewirken soll...
Schlingensief hadert mit einem Gott, der Leid zu einer Währung macht, die zählt. Er stolpert durch die Theologie.
Zitat:
„Aber schafft das heutzutage überhaupt jemand, über seinen Glauben, von mir aus auch über seinen Nicht-Glauben, zu sprechen, ohne ins Rutschen zu kommen? Meistens wird doch sowieso geschwiegen.“ (S. 126)
Christoph Schlingensief hat über seine Ängste, über die Wunde des Leben-Wollens und Sterben-Müssens, über seinen verlorenen und immer wieder umkreisten Glauben nicht geschwiegen. Ob er damit sprachlich ins Rutschen kam, war ihm gleichgültig. Er redet wie ihm der Schnabel gewachsen ist und hat damit viele Menschen berührt. Wer seine Wunden zeigt, dessen Seele wird geheilt, war sein Credo.
Er selbst hat in den wenigen Monaten, die ihm noch blieben, seine Wunden immer wieder auf die Bühne gestellt. Angst verwandelte sich so in Kreativität und Liebe. „Sterben lernen“ war 2009 sein letztes, fast heiteres Bühnenprojekt. Mit der Ausmalung der jenseitigen Welt hielt sich Schlingensief nicht lange auf. Aber dass in dem Haus mit den vielen Wohnungen, wie Jesus das Himmelreich einmal nennt, auch eine Tür für ihn geöffnet sein könnte, muss er wohl bis zum Schluß gehofft haben.
Christoph Schlingensief starb am 21. August 2010 im engsten Familienkreis. Die Trauerfeier für ihn fand in der Herz-Jesu Kirche in Oberhausen statt. Gehalten von einem Pfarrer, mit dem er in Verbindung geblieben war. „Eigentlich geht es um das Glück, geliebt zu werden und an einen Ort zu gehen, an dem man sich geborgen fühlt“.
Musik
Literaturhinweise:
Christoph Schlingensief, So schön wie hier kann es im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung.
btb Verlag München 2010, 254 S.
Christian Nürnberger, Die Bibel. Was man wirklich wissen muss.
Rowohlt Taschenbuch Verlag 2006. 222 S.