
Von der Sehnsucht, Gott zu sehen
„Man müsste Gott mit seinen eigenen Augen sehen, dann wäre es leichter, an ihn zu glauben.“
Das sagte ein Mann, der sich mit mir über das Leben unterhalten und über Gott und die Welt geredet hatte. Und über Gott müsste ich als Theologe doch etwas zu sagen haben. „Ja wenn man ihn sehen könnte“ wiederholte er, „dann wäre es leichter zu glauben.“
Sein achtjähriger Junge fragte: „Und was ist dann mit den Blinden?“. Er hatte auf dem Teppich mit Klötzchen gespielt und offensichtlich unser Gespräch verfolgt.
Man müsste Gott mit seinen eigenen Sinnen wahrnehmen, erkennen und erfassen können – das ist eine Sehnsucht der Menschen von jeher gewesen. Von Gotteserkenntnis oder sogar Gottesbeweisen haben nicht nur Theologen oder Philosophen geredet. Man müsste Gott sehen, hören, fühlen. Doch offensichtlich geht das nicht. Das hat schon der kleine Junge bemerkt.
Wenn wir Gott sehen könnten, was ist dann mit den Blinden? Wenn man Gott hören würde, was ist dann mit denen, die taub sind? Wenn ich Gott fühlen könnte, was ist dann mit den Menschen, die gefühlsarm geworden sind, weil das Leben sie abgestumpft hat? Es scheint eine unauflösbare Spannung zu sein.
Auf der einen Seite ist da die ewige Sehnsucht der Menschen, Gott zu erkennen, zu erfassen, seiner sicher zu sein. Auf der anderen Seite steht die Erfahrung, dass das nicht geht.
In der Bibel steht eine Geschichte, in der sich beides spiegelt, die Sehnsucht Gott zu sehen und das Unmögliche, es zu vollbringen.
Die Geschichte steht im zweiten Buch Mose, Kapitel 33.
Und Mose sprach zu Gott: Lass mich deine Herrlichkeit sehen. Von Angesicht zu Angesicht will ich dich sehen. Und Gott sprach: Ich will vor deinem Angesicht alle meine Güte vorübergehen lassen. Und ich will dir kundtun: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.
Aber mein Angesicht kannst du nicht sehen. Kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und Gott sprach weiter: Siehe, es ist eine Felsenkluft; in die will ich dich stellen und meine Hand vor deine Augen halten, wenn meine Herrlichkeit vorübergeht. Wenn ich vorübergegangen bin, will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir hersehen.
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Man müsste Gott mit seinen eigenen Sinnen erfassen und begreifen können. Diesen Wunsch haben Menschen zu allen Zeiten gehabt, um solche Gotteserkenntnis haben sich viele bemüht – ich auch.
Als ich vor vielen Jahren Theologie studiert habe, da kam das im Studium vor, die Gottesbeweise, die Philosophen und Theologen sich ausgedacht haben.
Da hat zum Beispiel einer gesagt: Wenn ich mir die Welt und das ganze Weltall anschaue, dann erkenne ich darin eine Ordnung. Planeten kreisen auf ewigen Bahnen um eine Sonne. Sie rasen nicht wild durcheinander. Milchstraßen bestehen und stürzen nicht in sich zusammen. Dahinter steckt Gott; da bin ich sicher.
Und dann hat ein Anderer dagegen gehalten. Das ist die Schwerkraft, die das alles bewirkt. Da gibt’s eine Balance zwischen Anziehungskraft und Fliehkraft. Dazu bracht man nicht Gott bemühen. So war die Sicherheit, Gott bewiesen zu haben dahin.
Ein Anderer hat argumentiert: Wenn ich das Leben anschaue und bedenke – das Leben von uns Menschen, das der Tiere und der Pflanzenwelt und wie sich das alles in Milliarden Jahren entwickelt hat, dann frage ich mich: Wie hat das alles begonnen? Und dann hat er sich die Antwort selber gegeben: Der erste Erreger, der ursprüngliche Anstoß zum Leben muss Gott gewesen sein.
Heute hält mancher dagegen: Da gab’s einen Urknall; mit dem ging alles los. Selbst wenn die Frage offen bleibt, wer oder was diesen Urknall ausgelöst haben mag; so viel ist klar: Der alte Gottesbeweis ist dahin.
Ich weiß noch, wie enttäuscht ich damals im Studium war, dass es nicht geklappt hat, Gott mit den eigenen Sinnen und der Vernunft zu erfassen und den Menschen zu beweisen.
Gott ist offensichtlich weder beweisbar noch widerlegbar. Der ewige Wunsch der Menschen, Gott erfassen zu wollen, seiner sicher zu sein, bleibt unerfüllbare Sehnsucht.
Gott hat damals zu Mose gesagt: Du kannst mich nicht von Angesicht zu Angesicht sehen. Da kannst nicht sozusagen auf Augenhöhe mit mir sein, mich erblicken und erfassen. Aber ich will dich in eine Felsenkluft stellen; alle meine Herrlichkeit wird an dir vorübergehen. Und dann kannst du hinter mir herschauen, und du wirst meine Güte erkennen.
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Die uralte Sehnsucht der Menschen, Gott zu erfassen oder ihn gar zu beweisen, seiner ganz sicher zu sein, ist unerfüllbar. In dieser Sehnsucht steckt verborgen der Wunsch, so zu sein wie Gott.
Du kannst mich nicht von Angesicht zu Angesicht sehen, sagte Gott zu Mose. Du Mensch kannst dich nicht mit mir auf eine Stufe stellen, auf Augenhöhe mit mir sein.
Aber ich will in aller meiner Herrlichkeit an dir vorübergehen; du kannst hinter mir herschauen, und du wirst mich in meiner Güte erkennen.
Ich finde das ein schönes und tröstendes Bild. Wir können Gott hinterher sehen. Er hinterlässt Spuren der Güte in unserem Leben. Daran kann man ihn erkennen.
Hab doch Vertrauen! Das ist die Botschaft dieser Geschichte aus der Bibel.
An die Stelle des zwanghaften Strebens nach absoluter Sicherheit tritt das tiefe Vertrauen, dass Gottes Güte verlässlich ist.
Wenn man Gott hinter herschaut, erkennt man also im Nachhinein auf dem eigenen Lebensweg seine Güte.
In einem Kirchenlied wird diese Erfahrung so besungen: „… in wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“
Ich habe einmal einen dreiundneunzigjährigen Mann beerdigt. Er hatte mir vor seinem Tod gesagt, dass wir bei seiner Beerdigung diesen Vers singen sollten. Der würde seine Lebenserfahrung und seinen Glauben am besten wiedergeben. Wenn er seinen Lebensweg rückblickend betrachte, Gott sozusagen hinterher schaue, dann würde er Gottes Güte erkennen. Er hat mir oft und viel von seinem Leben erzählt. So wie das alte Menschen gerne tun. Er hat vom Krieg erzählt, in den er als Jugendlicher ziehen musste. Er ist mit dem Leben davongekommen im Gegensatz zu vielen Kameraden die gefallen sind. „ … in wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“ Gerade in bedrängenden Lebenslagen trägt das Vertrauen zu Gott und in seine verborgene Güte. Eine geläufige Redewendung bringt diese Erfahrung zum Ausdruck. „Wer weiß, wozu es gut ist“ sagen die Leute bei uns, wenn ihnen etwas Böses zustößt – ein Unfall oder Krankheit vielleicht.
Damit kann man nicht alles, was Schlimmes passiert, schön reden. Aber das gibt es trotzdem, dass jemand im Nachhinein etwas Gutes im vermeintlichen Unglück entdeckt.
Ein Jugendlicher aus dem Dorf hat das so erlebt. Er war mit dem Auto zu schnell gefahren und im Straßengraben gelandet. Das Auto war hin. Zwei Wochen musste er im Krankenhaus liegen. Das war alles unpassend und ärgerlich. Als ihn ein Fußballkumpel besuchte, hat der diesen Satz gesagt: „Wer weiß, wofür’s gut ist!“. Im Nachhinein hat dieser Jugendliche auch etwas Gutes in dem bösen Unfall gefunden. Er hatte mit einem älteren Mann zusammen im Krankenhaus gelegen. Sie hatten viel miteinander geredet. Und in diesen Gesprächen hatte er viel für sein Leben gelernt, vor allem darauf zu vertrauen, dass es trotz allem was schlimm ist gelingen kann.
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Das tiefe Vertrauen in Gottes Güte und in das gute Gelingen des eigenen Lebens ist besser als der elende Zwang nach letzter Sicherheit. Doch warum fällt uns dieses Vertrauen so schwer? Oft ist der Wunsch nach Sicherheit viel stärker.
Eltern denken darüber nach, auf welche Schule sie ihr Kind schicken sollen. Sie möchten wenigstens einigermaßen Sicher sein, dass es die richtige Schule für ihr Kind ist und dass die Ausbildung gelingt. Doch jeder weiß, dass es eine letzte Sicherheit nicht gibt.
Wir versichern uns gegen manche Vorfälle im Leben. Wir schließen Versicherungen ab gegen Unfall und Krankheit, gegen Feuer und Diebstahl, gegen schlechtes Wetter im Urlaub oder eine Delle im Auto.
Viele Deutsche seien in Vielem überversichert war in einem Wochenmagazin zu lesen. So sinnvoll auch jede einzelne Versicherung sein mag, bleibt doch die Frage wie groß unser Sicherheitsbestreben sein muss und was es uns kostet.
Sicherheit ist ein Wort, das offensichtlich ein tiefes Bestreben von uns Menschen ausdrückt. Wir wollen Absicherung im alltäglichen Leben, innere Sicherheit im Staat; wir wollen sicher sein, dass immer genug Lebensmittel verfügbar sind, auch Energie und Geld. Militärische Sicherheit wird gefordert und der Preis dafür ist hoch.
Im Buch „Kassandra“ von Christa Wolff kommt eine Szene vor, die das Streben nach Sicherheit beschreibt. Es geht um die Geschichte wie die antike Stadt Troja erobert worden ist. Die Feinde hatten die Festung Trojas lange belagert und nicht einnehmen können. Das gelang ihnen erst durch einen lügenhaften Trick. Sie brachten ein riesengroßes gezimmertes Pferd in die Stadt – angeblich als Zeichen der Freundschaft. Im Bauch des Pferdes waren Soldaten versteckt, die dann die Stadt von innen her besiegten.
Nach dieser Eroberung hatte der Feldherr ein ungutes Gefühl. Er ging heimlich zu der Seherin von Troja. Diese Frau, die in die Zukunft blicken kann, sollte ihm eine Antwort geben wie das Leben in der Stadt weitergehen würde und ob die Eroberer in ihr gut leben könnten. Irgendwie wollte dieser Feldherr Sicherheit wie es weitergehen soll und was er tun müsste.
Die Seherin antwortete ihm: „Wenn ihr damit aufhören könntet, alles zu unterwerfen und beherrschen zu wollen, dann würde diese Stadt mit euch leben.“
Dann hat sie einen Blick zum Himmel geworfen und leise zu sich selbst gesagt: „Ich wünsche, dass es in Zukunft Menschen geben wird, die ihren Machtwillen in Vertrauen umwandeln und damit das Leben bereichern.“
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Manchmal ist das Vertrauen besser als das zwanghafte Streben nach Sicherheit und Macht. Wir müssen nicht immer alles im Griff haben, alles können und wissen. Wir müssen nicht immer stark, unanfechtbar oder unfehlbar sein. Wir können auch schwach und unsicher sein. Gerade in den Augenblicken, in denen uns das Leben wie zerbrochen oder fragmentarisch erscheint, brauchen wir das Vertrauen. Manchmal wird das erst im Nachhinein klar.
Ein Freund, mit dem ich vor vielen Jahren studiert habe, hat mir das deutlich gemacht. Er hat von seinem Lebensweg, vom Studium damals bis heute erzählt.
An manches habe ich mich dann wieder erinnert. Wie wir gemeinsam gepaukt haben fürs Theologiestudium und wie wir das Studentenleben in Marburg genossen und gefeiert haben. Von der Zeit des Verliebtseins hat er erzählt. Er war schon im Studium verlobt. Das war damals selten. Er war dann auch verheiratet, bevor wir anderen aus der Clique daran gedacht haben.
Lange war er mit seiner Freundin verlobt, jahrelang sogar.
Sie wollten ganz sicher sein, dass sie zueinander passen. Sie hatten sich auf dieser Suche zueinander viel Mühe gegeben. Sie hatten sogar so etwas wie einen Ehevertrag gemacht. Das war damals überhaupt noch nicht üblich. Darin stand wer was im Haushalt zu tun hatte, Wäsche waschen, Essen kochen, Schuhe putzen usw. Und wenn einmal Kinder da sein würden, dann sollten auch Erziehung und Fürsorge ganz gerecht aufgeteilt werden. Es war bis in Kleinigkeiten alles durchdacht und geregelt. Die Pflichten waren genau beschrieben. Sie wollten doch sicher sein, dass es klappt.
Geklappt hat die Ehe nicht. Das hat mein Freund mir traurig erzählt.
Sehr nachdenklich hat er dann einen Satz gesagt, den er von seiner Großmutter gehört hat. Eine Ehe ist keine Pflichterfüllungsgemeinschaft, sie lebt von dem Vertrauen zwischen den Partnern. Wahrscheinlich stimmt es, was die Großmutter aus ihrer Lebenserfahrung gesagt hat. Vertrauen trägt im Leben; es ist mehr wert als die gewollte aber oft vordergründige Sicherheit.
Das wird einem oft im Nachhinein klar, im Rückblick.
Es ist wie bei der Geschichte von Mose, der Gott sehen will und ihm nur hinterher schauen kann.
Ich schaue Gott hinterher und erkenne – manchmal ganz überraschend – Spuren seiner Güte auf meinem Lebensweg. Diese Erfahrung stärkt das tiefe Vertrauen in das gute Gelingen des Lebens oder wie Hilde Domin gesagt hat: Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug.
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