
Vom Wert der Treue
Manchmal steht ja eine Wahrheit des Lebens nicht wie in Stein gemeißelt vor Augen. Manchmal verbirgt sich die Wahrheit in kleinen Geschichten aus unserem Alltag oder in Geschichten, die uns Schriftsteller hinterlassen. Und wenn ich heute ein wenig erzählen möchte vom Wert der Treue, dann hilft mir dabei eine Geschichte.
Treue – das ist ja ein großes Wort. Und so richtig beliebt kann man das Wort und den Inhalt des Wortes „Treue“ nun wirklich nicht nennen. Für mich selber spielten früher das Wort und sein Inhalt auch keine besonders große Rolle. Treue war mehr etwas für Ältere, dachte ich immer. Jüngere dagegen müssen das Leben anpacken und immer neue Wege finden. Treue war da manchmal im Weg, fürchtete ich.
Aber dann las ich eines Tages die Geschichte, die ich Ihnen gleich erzählen möchte. Sie ist von dem französischen Schriftsteller Gustave Flaubert (1821 – 1880). Der schrieb die Geschichte etwa um das Jahr 1876, vier Jahre vor seinem Tod. Flaubert war kein besonders gläubiger Mensch, aber das ist gerade der Reiz. Er schaut von der Seite, von den Rändern des Lebens auf seinen wichtigen Inhalt. Sein Büchlein heißt „Ein schlichtes Herz“. Für nicht wenige Menschen sind die etwa fünfzig Seiten der Geschichte eine der schönsten, innigsten und sprachlich vollkommensten Erzählungen auf der Welt.
Der Franzose Flaubert war damals schon bekannt durch den Roman „Madame Bovary“, der einen heftigen Skandal ausgelöst hatte. Flaubert hatte auch schon einige Bewunderer, aber nach Veröffentlichung der Geschichte „Ein schlichtes Herz“ war er richtig berühmt und wurde sogar ein wenig gefeiert. Wenige Jahre danach stirbt Flaubert mit 59 Jahren. Er war nie verheiratet, vielleicht aus Bindungsangst; er hat den frühen Tod seiner Mutter und einiger seiner Liebsten nie richtig verwunden und hat noch kurz vor dem Tod sein ganzes Vermögen dem völlig ungeliebten Schwager vermacht – aus nur einem Grund: damit seine von ihm innig geliebte Schwester nicht in Schulden leben musste.
Mit der Geschichte vom schlichten Herz, die ich gleich nach der Musik erzähle, wollte Flaubert uns einfach nur zu Tränen rühren.
MUSIK
„Ein schlichtes Herz“ ist die Geschichte einer katholischen Magd im 19. Jahrhundert, einer ganz einfachen Frau. Sie findet Anstellung bei einer Witwe, die zwei Kinder hat und eine Unmenge Schulden. Dort arbeitet sie von „der Morgenröte, um die (Früh- )Messe nicht zu versäumen, ohne Unterlaß bis zum Abend“. „Ihr Gesicht war mager, ihre Stimme spitz.“ Einst hatte die Magd wohl einmal eine kurze Liebesgeschichte gehabt mit einem jungen Mann, aber die ging nicht gut aus. Obwohl sie vieles an ihrem christlichen Glauben und den Lehren ihrer Pfarrer nicht versteht, liebt sie Gott und hält Gott ihr Leben lang die Treue. Einmal heißt es: „Die Sanftmut der Umgebung hatte ihre Traurigkeit vertrieben.“
Nach vielen Jahren ihres treuen Dienstes gehen erst die Kinder aus dem Haus, später stirbt auch ihre Herrin und vermacht ihr - neben dem lebenslangen Wohnrecht - auch einen Papagei mit Namen Lulu, den die Magd Félicité in tiefster Freundschaft und Hingabe nun ihr eigen nennt, ihren kostbarsten Besitz. Mit ihm spricht sie immer wieder nur die drei Sätze, die der Papagei gerade mal kann – und lässt ihn dann sogar ausstopfen, als er gestorben ist. Sie will sich nicht von ihm trennen müssen, diesem treuen und einzigen Freund ihres Lebens.
Die alte Magd mit dem schlichten Herzen stirbt während einer Fronleichnamsprozession. Direkt vor ihrem Haus steht ein Altar, wie sie ihn früher auch immer geschmückt hatte zur Ehre Gottes; und während die Gläubigen singend am Altar vorüber ziehen, liegt die Magd in ihrem Sterbebett und fiebert. Nur der ausgestopfte Papagei ist ihr von ihrer wenigen Habe noch geblieben; auf ihn richten sich ihre fiebernden Augen. Er ist voller Staub und am Flügel schon zerrissen, aber die Magd sieht ihn weiter in seinen allerschönsten Farben. „Ist ihm wohl?“ sind ihre letzten Worte. Sterbend sieht sie den Himmel offen und hofft, dorthin aufgenommen zu werden. „Die Schläge ihres Herzens verlangsamten sich ... und als sie ihren letzten Atemzug tat, glaubte sie, in dem geöffneten Himmel einen riesigen Papagei zu sehen, der über ihrem Haupte schwebt.“ Ihr Liebstes im Leben, den Papagei, sieht sie fiebernd vor sich auch noch im Himmel.
MUSIK
Er wolle uns einfach zu Tränen rühren, hat der Schriftsteller Gustave Flaubert über seine Geschichte von der Magd mit dem schlichten Herzen gesagt. Und ich war wirklich tief berührt von dieser Erzählung, als ich sie vor einigen Jahren das erste Mal las. Ich war vielleicht sogar ein wenig verliebt in die schönen Worte von der treuen, armen und herzenswarmen Magd mit dem „schlichten“ Herzen. Sie war so arm, so traurig und auch wieder so treu und glücklich. Ihr einziger Freund im Leben bleibt auch ihr himmlischer Freund. Sie liebt ihren Papagei, wie sie Gott liebt, den sie eben leider nur nicht sehen kann – im Gegensatz zu ihrem Papagei.
Sie hat einfach nur eins gemacht, um in ihrem sonst eher trostlosen Leben ein wenig Trost und Freude zu finden bis zum letzten Atemzug: Sie hat die Treue gehalten – ihrem Glauben, ihrem Gott und ihrem Papagei. Und als ihr die Sinne schwinden, fließen Glaube, Gott und Papagei sozusagen in eins zusammen: In das Sinnbild ihrer großen Treue. Vielleicht versteht man manches im Leben nur dann, wenn man eine Weile die Treue gehalten hat, wenn man festgehalten hat an einem Menschen, an einem Glauben, an einer Hoffnung oder an der Liebe.
Mit dieser Erzählung macht der Dichter anschaulich, was uns die Bibel im Psalm 73 beschreibt. Auch da geht es um Treue, trotzdem das Wort gar nicht fällt, sondern mit Bildern umschrieben wird. Auch hier geht es um ein Festhalten, ein Ausharren allen Widrigkeiten zum Trotz.
Im Tempel zu Jerusalem spricht ein frommer Mensch diese Worte zu seinem Gott:
Dennoch bleibe ich stets an dir;
denn du hältst mich bei meiner rechten Hand,
du leitest mich nach deinem Rat
und nimmst mich am Ende mit Ehren an.
Wenn ich nur dich habe,
so frage ich nichts nach Himmel und Erde.
Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet,
so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.
Denn siehe, die von dir weichen, werden umkommen;
du bringst um alle, die dir die Treue brechen.
Aber das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte
und meine Zuversicht setze auf Gott, den HERRN,
dass ich verkündige all dein Tun.
(Psalm 73, 23-28)
Die Worte sind heute zweieinhalbtausend Jahre alt, mindestens. Aber sie haben eine eigenartige Frische. Das liegt vielleicht daran, dass die Treue nichts von ihrem Wert verliert, auch wenn Menschen ihr zu gewissen Zeiten vielleicht keinen Wert geben. Treue ist ein Wert, der lebensnotwendig ist - der sehr wohl eine Last sein kann, aber eben auch große Freude bringen kann, manchmal erst nach langer Zeit, wenn man es schon gar nicht mehr erwartet. Das ist ja oft so, dass die Werte, die uns beim Leben helfen wollen, nicht nur schön sind und erquickend. Oft sind sie eine Last. Aber eine Last, aus der große Freude werden kann.
MUSIK
So groß das Wort Treue erscheint, so einfach ist doch oft sein Inhalt. Treue ist ein Festhalten an Ideen, an Menschen, an Verhaltensweisen. Aber auch wiederum kein starres Immer-und-Überall-Festhalten, sondern eher ein ganz unaufgeregtes „Dabeibleiben“.
Ich möchte jetzt doch einmal versuchen, über die Treue im Leben ganz alltäglich nachzudenken:
- Treue gilt zum Beispiel für Eltern, die ihre Kinder natürlich in die Welt gehen lassen müssen, loslassen müssen. Aber als ihren Kindern sollen oder müssen sie ihnen die Treue halten. Von den eigenen Kindern kann man sich nicht einfach lossagen, kann ihnen nicht kündigen, wenn einem ihr Verhalten nicht mehr passt. Vielmehr gilt die Einstellung: Ihr dürft immer und mit allem zu uns kommen, auch mit allen euren Fehlern und Versäumnissen. Wir Eltern geben euch längst nicht immer Recht, streiten auch mit euch, aber wir lassen euch nie fallen.
- Treue gilt natürlich ebenso für Kinder gegenüber ihren älter werdenden Eltern. Da ist vieles gar nicht eitel Sonnenschein, da gibt es Streit ums Erbe oder um andere Dinge. Da kann der Tag kommen, wo den alten Eltern die Sinne schwinden. Vieles wird dann schwierig, aber eins sollte klar sein und bleiben: Von den eigenen Eltern kann man sich nicht einfach lossagen, wenn einem deren Verhalten nicht passt, aus welchen Gründen auch immer. Wenn es ernst wird, haben sich die Kinder zu kümmern, müssen sich kümmern, was auch immer geschehen ist.
- Natürlich dürfen auch Paare auseinander gehen, wenn sie sich nicht mehr vertragen, warum auch immer. Es waren damals keine guten Zeiten, als man noch bis zum Verderb miteinander verbunden blieb. Es muss gute Regelungen geben, eine Partnerschaft auch zu beenden. Aber es gibt eine Verantwortung, also eine gewisse Treue füreinander, die ist nicht so ohne weiteres leichtfertig kündbar, finde ich, auch wenn man nicht mehr zusammen lebt. Dazu gehört auch die Verpflichtung, sich um der Kinder willen möglichst friedlich zu trennen.
- Es gibt die Treue zu einer Idee; zu einem Verhalten, das man als richtig erkannt hat und dennoch immer wieder überprüft. Diese Treue soll man halten, auch wenn viele andere lächeln oder den Kopf schütteln. Das darf natürlich nicht zum Starrsinn um jeden Preis werden. Da zeigt die Geschichte des 30. Januar eine schreckliche Seite der Treue, die eher ein Verbohrt sein war und unserem Land zum Verhängnis wurde. Ideen müssen überprüfbar und veränderbar bleiben. Aber eine vielleicht eher leise Treue zu einer Idee hat sich schon oft, wenn auch vielleicht erst nach langer Zeit, als richtig erwiesen.
- Auch der christliche Glaube kennt die Treue. Manche haben sie sich selbst und Gott sogar durch ein jahrzehntelanges Gelübde versprochen.
Auch diese Treue heißt Festhalten, festhalten am Glauben, damit er mich gerade durch eine schwere Zeit führen kann. Der Glaube kann einen Menschen nur führen und leiten, wenn er nicht bei jedem Gegenwind in Frage gestellt wird. - Schließlich möchte ich noch noch sagen, dass Treue zum Glauben auch heißen kann, die unterschiedlichen Zeiten und Feste des Kirchenjahres besser zu kennen und einzuhalten. Gottes Zeit ist eine andere als mein Kalender – oft ist Gottes Zeit die weisere Zeit, die bessere Zeit.
MUSIK
Treue ist nicht Starrsinn und kein Verbohrt sein in etwas, sondern eher ein geschmeidiges Festhalten an Menschen und Ideen; ein Festhalten, das man durchaus auch immer wieder einer Prüfung unterziehen muss. Die Treue der alten Magd Félicité mit dem schlichten Herzen war ein stilles Festhalten an den Menschen, die ihr anvertraut waren, an den ungeschriebenen Anstandsregeln des Alltags und an Gott, dem sie zutraute, ihr Leben richtig zu leiten.
Manchmal ist Untreue der Anfang einer Beliebigkeit, die sich fürs eigene Leben verhängnisvoll auswirken kann und bei der man jede Haltung und jeden Halt verliert. Manchmal ist Treue die einzige Möglichkeit, das Leben zu bestehen. Und manchmal muss man treu sein, auch wenn man meint, es eigentlich besser zu wissen. Der bessere Weg ist nicht immer der leichte.
Eben wegen ihrer rührenden Treue sieht die arme und kranke Magd am Ende den Himmel für sich offen. Ihr lebenslanges Bekenntnis bringt sie mitten in den Himmel – wie auch den Beter des Psalms:
Aber das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte
und meine Zuversicht setze auf Gott, den HERRN,
dass ich verkündige all dein Tun.
Manchmal ist treu sein die beste Möglichkeit, das Leben zu bestehen.