Zeit haben
hr2 Morgenfeier vom 1. Januar 2006 von Bischof Franz Kamphaus
(verstorben am 28. Oktober 2024 - er möge ruhen in Gottes Frieden und Fülle!)
„Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens …“ Das Wort ist mir nachgegangen, als ich es vor einiger Zeit las, nachgegangen bis heute. Heute ist der erste Tag – in 2006. Ich hoffe, Sie sind gut ins neue Jahr reingekommen. Ich wünsche Ihnen Gottes Segen am Morgen dieses Tages und dieses Jahres. Es wäre schön, Sie hätten etwas Zeit, jetzt – und überhaupt.
Eigentlich müssten wir heute doch viel mehr Zeit haben als frühere Generationen: Die Lebenszeit ist länger, die Arbeitszeit kürzer. Und doch heißt’s all überall: „Keine Zeit!“ Alles hat keine Zeit. Wer Zeit hat, ist schon verdächtig, ganz unbedeutend zu sein. Wer was auf sich hält, darf keine Zeit haben. Er ist gefragt – und stellt sich unter den Terror der Termine. Wer kommt schon ohne Terminkalender aus? Wochen im Voraus stellen wir unsere Zeit mit Terminen zu, verkaufen unsere Zukunft. Wir gewöhnen uns an, Termine wahrzunehmen, und außer den Terminen nehmen wir schließlich nichts mehr wahr: Nicht die traurigen Augen einer Mitarbeiterin, das Zögern in ihrer Stimme, das uns anzeigt: Das Wichtigste ist noch gar nicht gesagt. Nirgendwo sind wir richtig da, immer auf dem Sprung zum nächsten Termin: Zack, zack, dalli, dalli … Spüren Sie, was da passiert? Eine gefährliche Verkehrung: Es ist nicht mehr so, dass ich Zeit habe, sondern die Zeit hat mich. Ich bin nicht mehr Herr im eigenen Haus, ich lasse mich jagen, von Termin zu Termin. Schade!
Zu einem Einsiedler kommt ein junger Mann und fragt ihn: „Warum suchst du die Stille?“ Der Einsiedler schöpft gerade Wasser aus dem Brunnen. „Schau in den Brunnen“, sagt er, „was siehst du?“ Der junge Mann blickt in den Brunnen: „Ich sehe nichts.“ Nach einer Weile ruft er ihn wieder: „Schau in den Brunnen, was siehst du jetzt?“ Der junge Mann blickt hinunter und sagt: „Jetzt sehe ich mich selbst.“ – „Siehst du“, spricht der Einsiedler, „als ich Wasser schöpfte, war es unruhig, und du sahst nichts. Jetzt ist das Wasser still, und du siehst dich selbst.“
II.
Wir leben so, wie wir Auto fahren: Die Augen nach vorn auf die Straße gerichtet, ein flüchtiger Blick in den Rückspiegel, so rasen wir durch die Gegend. Was um uns herum ist, nehmen wir kaum noch wahr. Wir sind immer auf dem Sprung zum Nächsten und Übernächsten.
Es klingt verrückt: Goethe beklagte auf einer Italienreise, die Postkutsche fahre zu schnell, er könne die Landschaft nicht mehr in sich aufnehmen. Was sehen wir noch von einem Intercity aus? Wir können nicht einmal mehr die Stationsschilder der Bahnhöfe lesen, durch die der Zug rast. Immer mehr Menschen kommen immer schneller irgendwo hin, wo sie immer kürzer bleiben.
Zeit ist Geld, heißt es. Wenn das gilt, verspricht Beschleunigung Profit. In unserem Wirtschaftssystem soll in immer weniger Zeit von immer weniger Leuten eine immer höhere Produktivität erreicht werden. Viele fallen dabei heraus oder kommen gar nicht erst hinein in den Arbeitsprozess. Medizinische, pflegerische Hilfe darf ein bestimmtes Zeitmaß nicht überschreiten. Hektik und Stress sind die Folge. Die menschliche Zuwendung bleibt auf der Strecke. Immer mehr Menschen haben trotz Arbeitsverkürzung immer weniger Zeit für das, was sie eigentlich wollen.
Was machen wir mit unserer Zeit? Wir können sie vertreiben oder vertun, sie gar totschlagen. Wir können sie versilbern; wie gesagt: Zeit ist Geld! Wir können sie aber auch verschenken, können anderen Zeit schenken: die Eltern den Kindern, und die Kindern den Eltern, einer dem anderen. Die Zeit ist das kostbarste Geschenk, das wir füreinander haben. Mit ihr geben wir nicht nur etwas, sondern uns selbst.
Vielleicht fällt Ihnen ein, dass Sie immer schon mal jemanden aus Ihrer Verwandtschaft oder Bekanntschaft besuchen wollten, der allein ist. Und immer kam was dazwischen. Vielleicht finden Sie heute etwas Zeit, oder morgen. Es könnte ja sein, dass es höchste Zeit wird.
III.
Auf dem Regal in meinem Arbeitszimmer steht eine Sanduhr. Von Zeit zu Zeit hole ich sie näher zu mir auf den Schreibtisch. Es ist heilsam, sie anzuschauen. Frühere Generationen haben mit der Sanduhr die Zeit gemessen. Heute haben wir Quarzuhren. Bis auf die Sekunde genau geben sie die Zeit an. Man muss sie nicht umdrehen wie eine Sanduhr, auch nicht aufziehen wie eine mechanische Uhr. Sie laufen nicht ab, sie laufen immer weiter; endlos. Nach modernem Empfinden ist die Zeit denn auch ein gleich bleibendes Kontinuum, wie ein Perpetuum mobile. Es geht immer so weiter.
Aber wir machen doch auch ganz andere Erfahrungen: Ein Tag geht zu Ende, ein Jahr, ein Leben. Unsere Zeit ist befristet. Das hatten die Menschen früher unmittelbar vor Augen, wenn sie auf die Sanduhr schauten. Der Sand rinnt aus dem oberen Glas ins untere. Die Zeit wird weniger. Sie läuft ab, sie vergeht. Sie geht nicht unendlich lang, sie ist endlich. Die Zeit ist wie ein begrenzter Vorrat an Jahren, der uns geschenkt ist.
„Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens …“ Das Wort hat’s in sich. Jeder wird es anders aufnehmen. Die Jüngeren werden denken: Rest des Lebens? Für mich ist das Leben nicht nur ein Rest, ich habe es noch vor mir. Gott Dank! Aber wie immer wir es drehen, die Sanduhr läuft, auch für die Jüngeren unter uns. Niemand von uns weiß, wie lange sein Lebensvorrat bemessen ist. So viel ist sicher: Heute ist ein erster Tag. Heute ist die Chance eines neuen Anfangs. Der erste Tag vom Rest!
Zeit ist kostbar. Sie ist mehr Gabe als Geld, sie ist unbezahlbar. Sie fällt uns zu wie ein Geschenk des Himmels. Und es ist, wie wenn unser Platz jetzt an dem entscheidenden Punkt der Sanduhr ist, dort, wo sich das Glas verjüngt wie zu einem Nadelöhr, durch das die einzelnen Sandkörner hindurch gleiten: Jeder Augenblick wie ein Geschenk, uns anvertraut.
Viele meinen oder tun jedenfalls so, als sei alles wiederholbar: Die Jugend soll wieder beginnen durch Kosmetik und Fun-Kultur, das Scheitern der Beziehungen scheint revidierbar, man geht eben ein neues Verhältnis ein. Keine Entscheidung ist endgültig, so lange Quittungen den ständigen Umtausch ermöglichen. Alles ist ersetzbar, alles kann ausgewechselt werden. Schließlich wird dann auch das Leben auswechselbar. Demgegenüber spitzt die Sanduhr unser Zeitverständnis auf das Äußerste zu. Man kann die Zeit nicht einfach wiederholen. Sie verrinnt, sie vergeht. Reinkarnation? Nein, ich kann mein Leben nicht wiederholen. Es ist der Ernstfall. Wer bin ich, wenn ich schon x-mal irgendein anderer gewesen sein soll, wenn mein Leben die Neuauflage eines anderen ist? Jeder Mensch ist einmalig. Die Zeit, die uns zu leben geschenkt ist, kommt nicht wieder. Man kann nicht auf Probe leben, und man kann schon gar nicht auf Probe sterben.
IV.
Hat der Umgang mit der Zeit etwas mit dem christlichen Glauben zu tun? Und ob! Wenn das Leben vor dem Tod alles ist, dann richtet sich aller Lebenshunger auf dieses kurze Stück Lebenszeit. Ja nichts verpassen, alles jetzt. Tempo, Tempo! Die Zeit tickt. Das Leben wird zur „letzten Gelegenheit“. Man muss seine unendlichen Wünsche in die endliche Lebenszeit hineinpressen. Wer jetzt nicht alles haben muss, weil ihm das Beste immer noch bevorsteht, der verliert die Angst, zu kurz zu kommen. Er hat Zeit, sich anderen zuzuwenden, besonders denen, die keinen Menschen haben.
Gott hat Zeit. Er hat sich Zeit gelassen, er hat sich in die Zeit eingelassen. In Jesus Christus ist er unser Zeit-Genosse geworden. Mit ihm ist die Zeit erfüllt. Sie hat ihre Mitte gefunden. Daran können wir uns halten, auch in unserer Zeit, die seine Zeit ist. Wer darauf vertraut, der kann sich und anderen Zeit lassen, er ist von dem Druck befreit, selber den Himmel auf Erden schaffen zu müssen. Er weiß, dass Gott in seinem Lebensvorrat noch mehr zu bieten hat als die kurze Spanne Lebenszeit. Darum muss er nicht in Panik geraten, ja nichts zu verpassen. „Mit Gott kannst du nichts versäumen“, sagt Meister Eckhart.
Die entscheidenden Dinge in unserem Leben brauchen Zeit. Vertrauen gewinnt man nicht im Vorübergehen. Freundschaft und Liebe brauchen Zeit. Trauer lässt sich nicht im Zeitraffer oder nach Terminplan regeln. Ein gemeinsames Mahl braucht Zeit, ist kein Schnellimbiss, es braucht Zeit.
„Wo ist nur die Zeit nur geblieben?“, fragen wir. Die Sanduhr kann uns weiterhelfen. Der Sand, der aus der oberen Schale nach unten rinnt, läuft nicht ins Leere. Die Zeit läuft nicht weg. Sie wird aufgefangen, gesammelt. Ich kann in dem unteren Glas der Sanduhr Gottes Hände erkennen. Sie fangen meine Zeit auf, dass sie nicht im Sande verläuft. Meine Zeit in Gottes Händen!