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Pfingstliche  Klangwelten
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Pfingstliche Klangwelten

Dr. Alfred Mertens
Ein Beitrag von Dr. Alfred Mertens, Professor emeritus im Kirchendienst, Priester im Ruhestand, Mainz

Vor einigen Jahren hat der Geigenbauer Martin Schleske in einem Buch seine Arbeit vorgestellt. Darin beschreibt er die vielen einzelnen Schritte, die schließlich zu einer fertigen Geige führen. Der erste Schritt aber dient der Auswahl des richtigen Holzes, hoch oben im Bergwald:

„Es war ein Windbruch. Ein Teil des Hanges an der Baumgrenze war von einem starken Sturm heimgesucht worden. … Unzählige gewaltige Fichten … lagen entwurzelt oder gebrochen kreuz und quer im Steilhang des Windbruchs. Doch dann riss die Wolkendecke auf und die Sonne warf ihr Licht auf die weißlichen Stammquerschnitte. Der Verlauf der Jahresringe war überwältigend: … Da wurden Klangholzqualitäten beleuchtet, wie wir sie selten zuvor gesehen hatten.“ 1

Für mich war es bis zur Lektüre des Buches völlig belanglos, dass da ein Baumstamm andere Geräusche, noch dazu Klänge, von sich geben sollte als ein anderer. Aber dann beschreibt der Geigenbauer weiter, wie die zurechtgesägten, etwa zwei Meter langen Stämme den Steilhang des Berges hinunter stürzten:

„Einer der drei Stämme … klang bei jedem Aufprall (auf einen Felsvorsprung) wie ein Glockenschlag. Es war ein Schall, der nicht mehr ausschwingen wollte, klar und frei und hell im Ton. Die … beiden anderen Stämme gaben beim Aufprall nur einen dumpfen, hölzernen Ton ab.“

Für den Geigenbauer Martin Schleske ist klar geworden: Aus diesem Holz kann eine gute Geige werden. Für ihn ist aber schließlich die mühselige Suche nach dem richtigen Holz in den Höhen des Bergwalds auch zu einem Bild geworden:

„Ein großartiges Klangholz findet sich nicht nebenbei. Unsere Suche ist mir damals zu einem Gleichnis für eine viel umfassendere Suche geworden …: Wenn schon ein guter Geigenklang diese Mühen und Wege verlangt, wie könnte dann der Klang unseres Lebens weniger verlangen?“

Der Klang der Geigen als Gleichnis für den Klang des Lebens. Deshalb hat der Geigenbauer seinem Buch den Untertitel: „Vom unerhörten Sinn des Lebens“ gegeben, und er versucht darin, diesen „Sinn des Lebens“ zu deuten.

Aber wie hört er sich denn an, der Klang Lebens? Ich möchte mit Ihnen in ein paar Bereiche unseres Lebens hineinhören, um ihn zu vernehmen.

Als Erstes fällt mir dabei auf: Das ist gar nicht so einfach. Die Welt um uns herum ist so laut geworden: Die Motorengeräusche auf unseren Straßen, oft genug bis in die tiefste Nacht hinein. Viele Menschen, die an belebten Straßen wohnen, wagen kaum noch die Fenster zu öffnen; sie wollen schließlich ihre eigenen Worte noch verstehen und nachts ruhig schlafen können. Oder: Über uns ziehen die Flugzeuge ihre Bahnen; in einer der Einflugschneisen zum Frankfurter Flughafen oft genug so niedrig und so nahe an meiner Wohnung vorbei, dass ich die Piloten im Cockpit erkennen kann. Und ihre Motoren sind in der Regel nicht gerade leise; in Stoßzeiten brummen sie häufiger als im Minutentakt vorbei. Schließlich die Menschen neben uns. Manche von ihnen gehen Arbeiten nach, die beim besten Willen nicht gerade geräuschlos zu tun sind, wie etwa die Arbeiter beim Straßenbau mit ihren Presslufthämmern. Soll das der Klang unseres Lebens sein? Manchmal denke ich: Es ist eher der Krach unseres Lebens.

Wenn ich also den Klang meines Lebens wahrnehmen möchte, werde ich zwischen den vielen Stimmen und Klängen unterscheiden müssen; ich werde versuchen, Richtiges und Wichtiges herauszuhören, anderes auch einmal zu überhören und auf sich beruhen zu lassen. Und dafür werde ich immer wieder einmal Orte und Zeiten der Stille brauchen. Aber wenn es dann einmal ruhig und still um mich geworden ist, habe ich oft genug zuerst einmal einen Augenblick lang wie erschrocken innehalten müssen, als fehlte da irgendetwas; so sehr habe ich mich an die Geräuschkulisse um mich herum gewöhnt. Und es braucht dann jeweils eine Weile, bis ich den Klang der Stille wahrnehmen kann. Und im Klang der Stille werde ich vielleicht auch mich selbst entdecken können.

Ich lebe nun schon länger als vierzig Jahre in Mainz und fast genauso lange habe ich ein Abonnement für die großen Sinfoniekonzerte des Philharmonischen Staatsorchesters. Seitdem stehen die Konzerttermine im Kalender; das hilft, sie auch wahrzunehmen. Will sagen: Die Musik ist für mich – neben der Stille – eine zweite Alternative zum Lärm der Welt geworden: ein ganz besonderer Klang.

Manche Leute sprechen vom „Zauber der Musik“. Das klingt vielleicht etwas sehr romantisch. Aber mir ist es schon oft so ergangen: Die Musik konnte mich wirklich verzaubern, so sehr, dass ich nur noch, dem Klang der Instrumente und der Stimmen hingegeben, ganz Ohr geworden bin. Und nicht nur ich, viele haben es schon so erlebt: Nach einer großen Musik haben die Leute ein paar Augenblicke lang ergriffen geschwiegen und fast vergessen, weiter zu atmen, bevor der Applaus aufbrauste, die Anerkennung und der Dank für die Musizierenden.

Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil hat einmal beschrieben, wie er zum ersten Mal, damals noch Gymnasiast, Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion erlebte:

„Es half … nichts, unbeirrbar zog einen die Musik weiter aus dem vor Stunden noch harmlos erscheinenden Erdendasein heraus und schob einen vor die Pforten von Himmel und Hölle. Dann der schlimmste Moment. Die Stimme des Evangelisten zitierte die Worte Jesu, dass einer der Jünger ihn verraten werde, und sie sprach weiter von den Jüngern, von denen sich nun wiederum ‚ein jeglicher‘ fragte, ob er’s denn sei? …
Noch heute fürchte ich mich in jedem Vorfrühling ein wenig vor den Aufführungen der Bach-Passionen. … Sobald die entscheidende Stelle des ‚Herr, ich bin’s‘ kommt, verliere ich allen Verstand. Vielleicht rührt es daher, weil Bachs

Musik eine Musik zu den Urszenen der kindlichen Empfindungen von Angst und Erlösung ist.“ 2

Der Klang der Musik. Ein zauberhafter, ein verzaubernder Klang. Dabei muss es ja gar nicht immer nur Bach sein; jede hat da ihre, jeder hat da seine Vorlieben. Wichtig ist nur zu hören – und hinein zu tauchen in die Welt des Klanges. In einem bestimmten Sinn sind es dann für mich immer auch, selbst bei einer Adventsmusik, pfingstliche Klangwelten. Es ist, als ob sich der Geist Gottes der Musik bediente, um die Hörenden in eine neue, eine andere Welt hinein zu entführen; in ihr lässt sich dann – trotz allem – vielleicht etwas erspüren vom ursprünglichen Sinn der Schöpfung: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut.“ (Gen 1,31)

Ich denke mir: Wir brauchen solche Zugänge zu einer nicht alltäglichen Welt. Nicht als ob wir unsere Alltagswelt verdrängen wollten – das wäre unredlich; aber die neuen Zugänge sind das willkommene Gegengewicht zu allem, was eben nur „Alltag“ ist. In der lateinischen Sprache der Liturgie heißt übrigens selbst der normalste Werktag feria, Ferientag, Feiertag. Und es ist nicht zuletzt die Musik, die einem Alltag, mag er auch noch so grau und alltäglich daherkommen, seinen eigenen Glanz gibt. Ich freue mich oft schon den ganzen Tag hindurch auf einen Konzertabend.

Über das, was die Christen an Pfingsten feiern, erzählt die Apostelgeschichte im Neuen Testament. Da ist davon die Rede, dass die Jünger Jesu nach dessen Himmelfahrt sich in Jerusalem zurückgezogen haben, wo sie zunächst einmal blieben – und beteten. Aber keiner von ihnen traute sich nach draußen. Sie hatten Angst.

Und dann fährt Gottes Geist in diese Frauen und Männer hinein – und alles wird anders. Neue Klänge brechen auf – das heißt: man möchte gar nicht mehr von „Klängen“ reden. Ist denn das „Brausen eines heftigen Sturmes“ noch ein „Klang“? Nehmen wir es einmal in einem sehr weiten Sinn!

„Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen.“ (Apg 2,1-2)

Im Grunde ist Pfingsten eine ganze Welt von Klängen. Da ist zunächst der Klang des Gebets derer, die da in ihrem Obergemach zusammensitzen. Sie werden darum gebetet haben, dass die letzten Verheißungen Jesu doch in Erfüllung gehen mögen; sie sollten ja seine Zeugen werden „bis an die Grenzen der Erde“. Als fromme Juden haben sie aber wohl auch gebetet, was für sie an diesem Tag, dem fünfzigsten Tag nach Pesach, ihrem Osterfest, vorgesehen war. Da feierten sie das schawuot-Fest, das Fest der sieben „Wochen“; und sie gedachten dankbar des Bundes, den Gott mit ihren Vätern geschlossen hatte. Sollte dieser Gottesbund jetzt einen unerwarteten Höhepunkt finden, da der Heilige Geist Gottes sie erfüllte und sie zu völlig neuen Menschen machte?

Aber da ist nicht nur der Klang des Gebets, da ist auch der Klang der überraschten und verwirrten Menge vor dem Haus:

„(Es) traf sie mitten ins Herz und sie sagten zu Petrus und den übrigen Aposteln: Was sollen wir tun, Brüder?“

Und da ist schließlich der Klang der Predigt des Petrus. Gottes Geist hat ihm alle Angst ausgetrieben und nun kann er vor die Menge treten und das Geschehene deuten:

In diesen Tagen „wird es geschehen, so spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und eure Töchter werden prophetisch reden …, auch über meine Knechte und meine Mägde werde ich von meinem Geist ausgießen … Und es wird geschehen: Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.“ (Apg 2,17-21)

Und so wird aus der kleinen Gruppe der Getreuen Jesu die erste Christengemeinde in Jerusalem.

Der Klang von Pfingsten ist nicht verhallt, bis heute nicht. Er klingt überall dort weiter, wo Menschen sich vom Geist Gottes ergreifen lassen. Das kann sich auf vielerlei Weise zeigen. Dort zum Beispiel, wo Christen ihre Pfingstgottesdienste feiern, wo sie Gottes Wort hören und es sich für ihr Leben deuten lassen. Der Klang von Pfingsten bleibt hörbar, wo Menschen über sich hinauswachsen und sich anderer annehmen, die ihre Hilfe brauchen: der Armen, die es nach wie vor auch unter uns gibt; der Kranken und Leidenden, die sich über einen Besuch und über ein gutes Wort freuen; der Ratlosen und der Suchenden, die dankbar sind für einen hilfreichen Hinweis oder über ein Stück Wegbegleitung. Der Klang von Pfingsten bleibt wahrnehmbar, wo die Partner in Ehen und Familien bei Krisen nicht aufgeben, sondern um Lösungen ringen. Pfingsten klingt aber nicht nur in schwierigen Situationen weiter, sondern auch dort, wo Menschen Grund genug haben, sich am Leben zu freuen und wo sie ihre Feste feiern. Es gibt so unendlich viele Gelegenheiten, von denen man gern sagen möchte: Da klingt Pfingsten weiter, auch über das Pfingstfest hinaus.

Dabei mag es durchaus sein, dass manche Menschen gar nichts davon merken, dass Gottes Geist in ihnen wirkt; manche würden das wohl sogar entrüstet ablehnen. Aber der Pfingstgeist lässt sich nicht so ohne weiteres zähmen; er kann auch sehr verborgen wirken. Im Johannesevangelium des Neuen Testaments steht das schöne Wort: „Ohne Maß“ – in anderen Übersetzungen heißt es: „Unbegrenzt – gibt (Gott) den Geist.“ (3,34) Wir müssen uns jedenfalls nicht darum sorgen, Gott die Maße und Grenzen für die Gabe seines Geistes vorzuschreiben. Wir dürfen uns eher von ihm überraschen lassen. Das tut er auch, gern und oft, öfter als wir denken – und ohne uns um Erlaubnis zu bitten. Pfingsten kann einen höchst überraschenden Klang haben.

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Pfingstfest, ein Fest voll schöner Klänge.

 

1 Hier und im Folgenden: Martin Schleske: Geigenbauer, Der Klang: Vom unerhörten Sinn des Lebens. Mit Fotos von Donata Wenders, 10 2015 Kösel-Verlag München in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München, 14-16.

2 Hanns-Josef Ortheil, Glaubensmomente, Originalausgabe Oktober 2016, btb-Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH., München, 141-143.

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