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Über alle Dächer hinweg
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Über alle Dächer hinweg

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer i. R., Kassel
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Acht junge Männer stehen auf einem Dach. Und singen dort. So war das damals, Ende Oktober, in Bethel. Die Männer sind neu und studieren in der fremden Stadt. Sie haben Langeweile. Dann hecken sie Streiche aus. Einer sagt: Wir könnten doch singen. Das Haus hat nämlich ein Flachdach. Man kann oben aus den Fenstern klettern und steht auf dem Dach. Da wollen sie singen. Über alle Dächer hinweg. Volkslieder und Schlager. Erst einmal die Woche, dann zweimal. Bis sie eines Abends merken, dass in der Nähe ein Krankenhaus ist. Und ihnen von dort jemand zuwinkt. Die Patienten hören die Lieder der acht Männer auf dem Dach. Und scheinen sich zu freuen, manchmal. Da kommt den Männern eine Idee. Um sieben Uhr abends läutet immer die Kirchenglocke. Da singen sie nicht. Aber danach. Ab sofort singen sie nach dem Läuten immer das gleiche Lied: Der Mond ist aufgegangen. Besonders innig singen sie die letzte Strophe (7):
​…verschon uns, Gott, mit Strafen und lass uns ruhig schlafen.
​Und unsern kranken Nachbarn auch!
Sie singen kräftig. Sogar mehrstimmig. Manchmal stehen Patienten am Fenster und schauen zu. Die Langeweile der jungen Männer ist ihnen zu einem Auftrag geworden. Sie wollen Kranken eine Freude machen. Vor der Dunkelheit der Nacht singen sie das Gebet: Gott, lass uns ruhig schlafen; und unsern kranken Nachbarn auch. Manchmal kommen ihnen Tränen, wenn sie Patienten am Fenster stehen und winken sehen.
Lange ist das her. Und es war so einfach: Erst ein Scherz aus Langeweile – dann ein Gebet. Über alle Dächer hinweg. Viele Wochen lang bis zum Frost. Zum Schluss sogar jeden Abend nach dem Glockengeläut. Es ist so einfach. Die Abendglocke läutet. Man wird still, nur ein paar Minuten. Faltet die Hände – die alten oder jungen Händen, die gepflegten oder rissigen Hände – und sagt sich leise: Gott, lass uns ruhig schlafen; und unsern kranken Nachbarn auch. Als würde man kurz mal die ruhelose Welt verlassen und in die andere Welt gehen, wo Frieden ist. Wo niemand mehr leiden muss. Oder weint vor Kummer. Dann, nach den paar Minuten, kehrt man zurück in seine Welt. Weiß sich geborgen. Hat einen Trost in sich. Und der kranke Nachbar auch.

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