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Schulter frei!

Schulter frei!

Martin Vorländer
Ein Beitrag von Martin Vorländer, Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Ihre Schultern fühlen sich an wie Betonplatten. Tonnenschwer lasten sie auf ihr. Jede Bewegung am Steuer, jedes Umschauen, ob die Nebenspur frei ist, schmerzt den ganzen Rücken hinunter. Gut, dass die Scheiben des Autos so beschlagen sind! So kann keiner im Stau sehen, dass ihr die Tränen herunterlaufen.

Es ist einfach zu viel, was sie schultern muss. Sie steht gerne ihre Frau. Sie ist gut in ihrem Beruf. Sie kümmert sich mit dem Besten, was sie geben kann, um ihre Tochter. Sie kriegt es hin, alleinerziehend und berufstätig zu sein. Sie muss, denn schließlich muss sie das Geld für die Wohnung, für Essen, Schule, Klavierspielen und Sport, für Extras verdienen. Jeden Monat, jede Woche der Druck, als Selbstständige genügend Aufträge zu bekommen, gute Ergebnisse zu liefern und nebenbei Hausaufgaben, Freizeitaktivitäten und Zeit mit ihrer Tochter zu managen. Keine Stunde ist unverplant, jede Minute muss genutzt werden. Und sie will es nicht irgendwie schaffen. Sie will es gut machen. Gut im Job und gute Mutter. Aber sie kennt den Preis dafür: ständig schlechtes Gewissen, dem eigenen Programm nicht hinterher zu kommen, ständig die Sorge, ihrem Kind könnte es an etwas fehlen.

Kein Wunder, dass die Schultern schmerzen! Auf die Schultern wurde von jeher alles draufgepackt, was an Lasten zu tragen ist – auf die Schultern von Sklaven die Steinquader für den Bau der Pyramiden in Ägypten oder als Joch bei Arbeitstieren. So fühlt sie sich: wie die Sklavin der Anforderungen und Aufgaben oder wie unter einem Joch eingespannt, das ihr keine Bewegungsfreiheit mehr lässt. Nichts als schleppen und ziehen.

Statt der blöden Schulterschmerzen bräuchte sie jetzt viel dringender eine Schulter, an der sie sich ausweinen könnte. Jemanden, dem sie nichts vorspielen muss von wegen „Geht schon. Irgendwie schaffe ich es immer. Alles nicht so schlimm“. Jemanden, der ihr keine Ratschläge gibt „du solltest, du müsstest“. Sie kann nicht noch mehr Sollen und Müssen vertragen. Einfach jemanden, dem sie die ganze Last auf ihren Schultern vor die Füße werfen könnte.

Ich brauche eine Schulter zum Ausheulen. Das wär’s. Das ist’s. Bei dem Gedanken wischt sie sich übers Gesicht, ruckelt sich im Sitz zurecht und bewegt vorsichtig die Schultern. Der Schmerz zieht nach wie vor. Das wird sie versuchen. Nicht länger mit der aufgestauten Verzweiflung für sich bleiben, sondern einen vertrauten Menschen suchen, bei dem sie sich die Last von der Seele reden kann. Oder auch gar nichts reden, nur ein bisschen sich anlehnen.

„Du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen“, sagt in der Bibel der Prophet Jesaja von Gott. (Jesaja 9,3) So ein Befreiungsschlag, wie Gott ihn da tut, ist meistens nicht so einfach und nicht im Handumdrehen zu machen. Aber in Zeiten an der Grenze der Kräfte ist es schon ein heilsamer Anfang, wenn einer dem anderen das sein kann: Eine Schulter, um sich auszuweinen.

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