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Gott hält uns - im Leben und Sterben
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Gott hält uns - im Leben und Sterben

Eugen Eckert
Ein Beitrag von Eugen Eckert, Evangelischer Stadionpfarrer in der Commerzbank-Arena und Referent der EKD für Kirche und Sport

Es mag eigenartig klingen: Aber in den christlichen Kirchen gilt dieser Sonntag mitten im November als „Letzter Sonntag im Kirchenjahr“. Dabei endet das Jahr nach der üblichen Kalenderzählung doch erst am 31. Dezember. Im Kirchenjahr ist das anders. Gerade die Reformatoren haben sich dafür eingesetzt: Das kirchliche neue Jahr soll mit Licht beginnen. Mit der Wende vom Tod zum Leben, von der Finsternis zum Licht. Darum beginnt bereits mit dem ersten Advent am kommenden Sonntag in den Kirchen ein neues Jahr.

Heute ist also der „letzte Sonntag im Kirchenjahr“. Es geht heute darum, was bleibt angesichts des Todes. In der evangelischen Kirche heißt er darum „Ewigkeitssonntag“. In vielen Gedenkgottesdiensten und auf den Friedhöfen erinnern sich viele an Menschen, die immer dazu gehört haben und jetzt nicht mehr leben. Heute werden Namen in den Gottesdiensten vorgelesen. Es sind die Namen der Frauen, Männer und Kinder, die im zurückliegenden Kirchenjahr gestorben sind.

Ich selbst verstehe den Ewigkeitssonntag so: Er mahnt mich, mit der Gegenwart des Todes zu leben. Denn so wenig wie die Gesundheit ist das Leben selbstverständlich. In vielen Todesanzeigen habe ich schon den Satz gelesen: „Und wir dachten, wir hätten noch viel Zeit“. In seinem Gedicht „Schlussstück“ aber erinnert Rainer Maria Rilke an die Größe, die Macht und die Allgegenwart des Todes.

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns
mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen,
mitten in uns.


Musik: Habakuk, Noch ehe die Sonne am Himmel stand

Seit vielen Jahren steht mir selbst der schmerzliche Einschnitt, den der Tod mitten im Leben mit sich bringt, besonders hart an jedem zweiten Sonntag im November vor Augen. In meiner Heimatstadt Frankfurt laden die evangelische und katholische Kirchen und Selbsthilfegruppen ein zu einem Gedenkgottesdienst für verstorbene Kinder. Eingeladen sind verwaiste Eltern und Familien, die um Kinder trauern. Es geht um Kinder, die noch vor oder während der Geburt gestorben sind. Es geht um ganz Kleine, die nur wenige Tage leben konnten. Und es geht auch um Unfallopfer und Opfer von tödlichen Erkrankungen.

In der Heiliggeistkirche kommen die Eltern dieser Kinder zusammen. Am Eingang der Kirche können sie die Namen ihrer verstorbenen Kinder und ihre Gedanken in ein Erinnerungsbuch eintragen. Die Seelsorgerinnen lesen alle Namen später im Gottesdienst vor. Wer will, kann eine Namenskerze für sein Kind gestalten. Farbige Stifte und Kerzen liegen im Eingangsbereich der Kirche dafür bereit. Vor dem Altar zünden die Eltern die Kerzen an und stellen sie in Schalen. Und schon eine halbe Stunde vor Gottesdienstbeginn erinnert ein anschwellendes Meer aus Flammen an so viel Leben, das gar nicht oder viel zu kurz gelebt werden konnte. Manchmal sind Eltern dabei, die nicht nur um ein Kind trauern.

Seit fast zwei Jahrzehnten begleite ich diese Gottesdienste musikalisch. Am Anfang habe ich das für andere gemacht, weil ich Anteil genommen habe an der Trauer von Hunderten von Eltern. Dann, im Jahr 2004, haben meine Frau und ich selbst eine Fehlgeburt erlebt. Eine lang ersehnte Schwangerschaft, über die wir uns unendlich gefreut hatten, ging in rätselhafter Weise zu Ende. Ein Kind, das wir so gerne in die Arme geschlossen hätten, konnte nicht leben. Mit einem Mal war ich selbst Betroffener in diesem Gedenkgottesdienst für glücklose Schwangerschaften und verstorbene Kinder. Plötzlich spürte ich selbst tief in mir den Schmerz der Mutter, die für einen dieser Gottesdienste ein Gedicht über den Scherbenhaufen ihres Lebens geschrieben hat:

Mein Leben war einst voller Licht,
voller Träume, voller Hoffnung.
Mein Leben war einst
wie ein schönes Gefäß aus Ton -
doch dann kam der Tod
nahm mir mein Kind
zerschlug sein Leben
zerschlug mein Leben
in 1000 Scherben
das Licht erloschen
die Hoffnung entschwunden
die Träume zerplatzt
Warum?
Scherben in meiner Hand,
Teil des großen Ganzen,
nun zerbrochen.


Musik: Habakuk, Die Hoffnung zerbrochen

Ich bin mir schon lange bewusst: Der Tod gehört zum Leben. Ich habe oft erlebt: Dem Tod wohnt ein Schrecken inne, dem sich niemand entziehen kann. Als Pfarrer musste ich schon viele Tote beerdigen. Davor und danach, manchmal lange danach, habe ich die Menschen besucht, die der Tod zu Witwe, zu Witwern oder zu Waisen gemacht hatte. Ich habe mit ihnen geschwiegen und gesprochen. Ich habe sie auf dem Weg zum nächsten Schritt zu begleiten und sie zu trösten versucht. Ich habe mit ihnen gebetet.

Denn einen Menschen, den man lieb hat, an den Tod hergeben zu müssen, ist die schwerste Aufgabe, vor die uns das Leben stellt. Auf einmal ist man getrennt von denen, mit denen man verbunden war. Das kann das Leben ins Wanken bringen. Selbst wenn sich der Tod lange vorher angekündigt hat, zum Beispiel durch eine schwere Krankheit, erleben ihn viele als ‚plötzlich‘. Das alles wusste ich. Damit hatte ich schon oft zu tun gehabt. Auch damit, dass Menschen angesichts der Urgewalt des Todes manchmal mehr Wut und Zorn fühlen als Trauer.

Und dann stirbt auch mein lang ersehntes, noch gar nicht geborenes Kind. Das Leben voller Licht verwandelte sich in Dunkel. Träume platzten. Die Hoffnung zerschlug sich. Unser Kind war im Mutterleib gestorben. Ich habe meine Frau ins Krankenhaus begleitet, auf dem schweren Weg zu dem Eingriff, mit dem der tote Embryo geholt wird. Unser Leben schien in tausend Scherben zerschlagen. So, wie es jene Mutter formuliert, die auch ihr Kind verloren und darüber ein Gedicht geschrieben hat:

Scherben in meiner Hand
Teil des großen Ganzen, nun zerbrochen.
Verharren vor den Scherben des Lebens
zusammensetzen für mich unmöglich
dies ist endgültig
nichts ist mehr wie es war
nichts wie es sein sollte
wer könnte das je wieder zusammenfügen
zerbrochen bleibt zerbrochen
Scherbe bleibt Scherbe
Was soll nun geschehen?
Mit den Scherben, mit dem Leben?


Musik: Habakuk, Die Hoffnung zerbrochen,

Wir standen mitten im Leben. Wir waren werdende Eltern. Wir haben uns auf unser Kind gefreut. Und mitten hinein in unser Lachen ist der Tod hereingebrochen und hat unser Kind mitgenommen. Und wir standen vor unserem Scherbenhaufen, mit unseren Fragen, mit unserem Zorn, mit unserer Trauer. Aber inmitten dieser Scherben haben wir Wunderbares erlebt, das uns Schritt für Schritt herausgeholt hat aus unserer verzweifelten Traurigkeit. Da waren zuerst die Gespräche mit anderen. Wir wollten die Menschen um uns her nicht im Unklaren über unseren Zustand lassen. Darum haben wir nicht verschwiegen, was uns widerfahren war. Mit einem Mal fingen auch Freundinnen und Freunde an, von ihren Geschichten zu erzählen. Wir begriffen langsam: wir stehen nicht alleine da. So viele andere haben die schmerzliche Erfahrung einer Fehlgeburt oder den Tod von Kindern erlebt.

Wir wurden solidarisch umschlossen und spürten die Wärme, die uns die anderen entgegengebracht haben. Oberflächliche Gespräche gab es in dieser Zeit nicht mehr. Wir haben tiefe existentielle Erfahrungen ausgetauscht. Das Reden über den Tod und seine Schrecken war kein Tabu mehr. Genauso wenig wie zu fragen und zu suchen nach dem, was hilft, angesichts größter Ohnmacht. An meine Erfahrungen von damals musste ich denken, als ich vor wenigen Tagen die Todesanzeige für ein Kind las, das am Tag seiner Geburt gestorben war.

Mit Freude und Schmerz erwarteten wir Dich,
mit Schmerz und Schrecken ließen wir dich ziehen.
Du hast uns so viel gelehrt,
zu vieles davon können wir noch nicht verstehen.
Doch was man tief im Herzen besitzt,
kann man durch den Tod nicht verlieren.
Wir tragen dich in uns,
bis wir dich wiedersehen.


Über die Gespräche mit Menschen in gleicher Lage habe ich mich an Geschichten in der Bibel erinnert, die von Auswegen in Notlagen erzählen. Eine dieser Geschichten erzählt vom Propheten Elia. Er hatte sich damals in einer Auseinandersetzung mit den Mächtigen weit aus dem Fenster gelehnt und eine schwere Niederlage erlitten. Die führte ihn in die Depression. Alle Lebenslust ging ihm verloren. Der Prophet Elia, so erzählt es die Bibel, legte sich unter einen Ginsterstrauch und wollte nur noch sterben. Wie es mit ihm weiterging, hat der katholische Theologe Wilhelm Willms angelehnt an den biblischen Text faszinierend weitererzählt. Der Prophet Elia hat sich also aufgegeben und liegt zum Sterben bereit unter jenem Ginsterstrauch:

Doch da kommt etwas,
ja etwas,
die Bibel sagt:
ein Engel!
Das sagt die Bibel immer,
wenn sie nicht weiß,
wie sie sich ausdrücken soll,
wenn sie nicht richtig sagen kann,
woher etwas kommt.
Also:
Da kam ein Engel,
beugte sich über Elia,
stieß ihn an und sagte:
„Steh auf, Elia,
du bist kein Mensch der sterben darf,
komm, iss und trink!“
Elia wollte sich rumdrehen,
denn dieses Gerede
klang in seinen Ohren,
in seiner hoffnungslosen Situation,
wie Spott.
Aber etwas
In der Stimme dieses Engels
ließ ihn aufhorchen.
Und er schlug die Augen auf.
Und da war da jemand,
wie gesagt, ein Engel,
der hatte da ein Brot hingelegt,
ein ganz frisches,
auf dem heißen Stein des Lebens gebacken,
und eine Kanne Wasser
hatte der Engel hingestellt.


Auszüge aus: Wilhelm Willms, Der geerdete Himmel, Kevelaer 1977, 4.4

Wasser und Brot? Die armselige Kost für Gefangene als Trost für einen Propheten? Als Kraftquelle zum Weitermachen? Als Beweggrund, nicht alles hinzuschmeißen und aufzugeben? Kaum zu glauben! Aber Elia hat das geholfen: Er blieb nicht alleine in seinem Elend. Jemand nahm ihn wahr, hat sich zu ihm gesellt. Da kam jemand ganz einfach. Die Bibel sagt: ein Engel! Manchmal, wenn mir selbst so etwas Schönes und Überraschendes widerfährt, wie die unerwartete Hilfe oder Nähe eines Menschen, kann ich mich selbst sagen hören: „Du bist ein Engel!“. Und im Nachgang denke ich: Vielleicht sind mir in solchen Situationen für einen Moment die Augen aufgegangen, für die Engel Gottes um mich her.

„Iss und trink“ hat der Engel zu Elia gesagt. Es hat Elia geholfen, dass es ganz Elementares für ihn gab: Wasser und Brot! In jedem Fall genug, um zu neuen Kräften zu kommen. Und Elia, so erzählt es die Bibel, hat diese Speisung gestärkt. Er ist aufgestanden und auf dem weiten Weg weitergegangen, der noch vor ihm lag. Mir und meiner Frau, als wir um unser gestorbenes Kind getrauert haben, hat es geholfen, die Geschichte von Elia nicht nur zu lesen, sondern sie am eigenen Leib zu erfahren: Denn Engel waren um uns, die uns trösteten und uns Mut machten. Das waren Menschen, die uns nicht allein gelassen haben. Die einfach kamen und uns zu essen brachten, häufig viel mehr, als Wasser und Brot.

Musik: Habakuk, Aus deiner Hand kommt alles Leben

Wir, als verwaiste Eltern, haben wieder Fuß fassen können. Engel um uns haben dazu beigetragen und die Speisen, mit denen sie uns gestärkt haben. Und auch die biblische Geschichte vom lebensmüden Propheten Elia und seiner „Auferstehung“ hat uns aus unserer Traurigkeit herausgeholfen.
Was aber ist mit dem Kind, das wir hergeben mussten, ehe wir es kennenlernen durften? Und überhaupt: Wohin gehen die Menschen, die wir loslassen müssen? Wo sind unsere Toten? Der christlich-jüdische Glaube sagt: Wir kommen von Gott her und wir gehen zu Gott zurück. Darum kann, darum wird niemand tiefer fallen, als in die offenen Hände Gottes. In Psalm 90 spricht jemand, der das glaubt, so:

Herr, du bist unsre Zuflucht für und für.
Ehe denn die Berge wurden
und die Erde und die Welt geschaffen wurden,
bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Der du die Menschen lässest sterben und sprichst:
Kommt wieder, Menschenkinder!
Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag,
der gestern vergangen ist,
und wie eine Nachtwache.
Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom,
wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst
und des Abends welkt und verdorrt.
Gott, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen,
auf dass wir klug werden.


Gott spricht: Kommt wieder, Menschenkinder! Darauf gründet sich die Hoffnung am Ewigkeitssonntag. Niemand von uns geht verloren! Bei Gott ist der eine Ort, wo die Menschen sind, die der Tod uns entreißt. Der andere Ort ist unser Herz, mit dem ich mich an die Verstorbenen erinnere. Eine Freundin hat mir erzählt: In Lateinamerika ruft die Gemeinde, die auf dem Friedhof Abschied nimmt: „Präsente!“ Präsente bedeutet: Der Verstorbene ist gegenwärtig. Er ist präsent. Vielleicht auch: Er ist auferstanden. Er ist bei Gott und in uns.

In den Kirchen und auf den Friedhöfen lesen Christen heute die Namen derer vor, die im zurückliegenden Kirchenjahr verstorben sind. Sie sind gegenwärtig sind. Ihre Namen sind präsent. Die Erinnerung an sie lebt in den Herzen derer, die an sie denken. Und sie leben bei Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Musik: Habakuk, Und wir werden klug

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