Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Eine Geburt aus dem Feuer – Die Botschaft der Glocken an diesem Weihnachtsfest
Bildquelle: pixabay

Eine Geburt aus dem Feuer – Die Botschaft der Glocken an diesem Weihnachtsfest

Dr. Michael Müller
Ein Beitrag von Dr. Michael Müller, Pfarrer in der Pfarrei St. Jakobus, Hünfeld
Beitrag anhören:

Es war eine Geburt aus dem Feuer. Mitten in der Nacht vom 7. auf den 8. Juni 1497 gegen 1:00 Uhr hatte die Glockenspeise endlich die richtige Temperatur. Der Zapfen des Ofens wurde ausgeschlagen und die 1100 °C heiße flüssige Bronze schoss glühend aus dem Ofen. Es war wohl eine der größten technischen Meisterleistungen des ausgehenden Mittelalters, die dem Glockengießer Gerhard van Wou auf dem Erfurter Domberg gelang. In dieser Nacht goss er die berühmte Gloriosa. Mit einem Gewicht von über 11 t ist sie die größte freischwingende mittelalterliche Glocke der Welt. Und dazu wohl auch eine der klangschönsten Glocken, die es gibt. Fachleute nennen sie die Königin aller Glocken. In Erfurt gibt es den Spruch: "Wenn die Gloriosa spricht, haben alle anderen Glocken zu schweigen." Ihr Klang verzaubert seit über 500 Jahren die Menschen. Er scheint wie aus einer anderen Welt zu kommen. Vom Domberg klingt er weit in das Land und viele Menschen kommen, um zu hören.

Wenn die Gloriosa läutet, ist das etwas Besonderes, an wenigen Tagen im Jahr und zu außergewöhnlichen Ereignissen. Über 500 Jahre. Was hat dieser Klang in all den Jahrhunderten nicht alles begleitet: die großen Feste, aber auch Schicksalstage, den Tag der Deutschen Einheit ebenso wie die Tränen der Menschen nach dem Amoklauf in einer Erfurter Schule vor vielen Jahren. Ein Klang, der tröstet und erfreut, der zusammenruft und verkündet. Eine Stimme, die den Menschen zuruft: "Ihr seid nicht allein." Und auch an diesem so ganz anderen Weihnachtsfest wird sie wieder läuten, die Gloriosa, und ihre Botschaft verkünden: "Gott ist bei euch."

Musik:Glocken und Orgel - Geläut Gloriosa   

"Gott ist bei euch.de", so lautet die gemeinsame Aktion von evangelischer und katholischer Kirche zum Weihnachtsfest in diesem Jahr, in dem uns die Corona-Pandemie in Atem hält. Vieles ist anders in dieser Advents- und Weihnachtszeit. Menschen spüren ihre Einsamkeit, weil sie nicht zusammenkommen können. Familien können nicht gemeinsam das Fest feiern. Menschen in Seniorenheimen und Krankenhäusern können keinen Besuch empfangen. Viele bangen um ihre Firma, um ihren Arbeitsplatz, um ihr Kino oder um ihr Restaurant. Die Chöre und Musikgruppen haben ihre Probenarbeit eingestellt. Und Weihnachtsgottesdienste, in denen die Menschen dicht gedrängt das Lied von der "Stillen Nacht" anstimmen, sind auch nicht möglich. Auch die Gloriosa hat besondere Weihnachtsfeste erlebt. Es war am Heiligen Abend des Jahres 1984. Beim Einläuten des Festtages hatte die Glocke plötzlich ihren wunderschönen Klang verloren. Ein etwa 60 cm langer Riss brachte die berühmte Gloriosa zum Verstummen. Was war geschehen? Im Jahre 1899 hatte man die Glocke gedreht, um die über viele Jahrhunderte beanspruchte Anschlagstelle des Klöppels zu schonen. Das wurde ihr zum Verhängnis. War die Glocke für immer verloren? Damals, im Jahr 1984, gab es keine technische Möglichkeit, die Glocke aus dem Turm zu bringen. Nach ihrem Einbau waren die gotischen Gewölbe des Erfurter Domes geschlossen worden. So blieb nur die Reparatur im Turm. Allerdings ist es nicht so einfach, den Riss in einer Glocke zu schweißen. Das mächtige Instrument musste auf etwa 400 °C erhitzt werden. Eine abenteuerliche Aktion mitten in der DDR. Fachleute aus der Bundesrepublik bauten einen Ofen um die Glocke, um sie auf eine entsprechende Temperatur zu bringen und die Reparatur begann. Fast ein Wunder: Die Aktion gelang. Der Klang war schöner als zuvor. Doch die Reparatur war nicht von Dauer. 2004 riss die Glocke wieder. Doch diesmal verließ sie erstmals seit über 500 Jahren ihre Glockenstube und konnte repariert werden. Bei ihrer Rückkehr in den Mittelturm des Erfurter Domes wurde die Glorisoa unter dem Applaus tausender Menschen auf dem Domplatz wieder in den Turm gehoben.

Die Geschichte der Gloriosa sagt uns etwas für das eigene Leben. Gibt es nicht in jeder Lebensgeschichte Brüche? Stellen von Überlastung? Auch daran erinnert der Klang der Gloriosa an diesem Weihnachtsfest: Es gibt in unserem Leben Brüche, feinste Risse, die zeigen: die Welt, die Menschheitsfamilie ist geprägt von Spaltung und Brüchen. Es gibt Risse zwischen Völkern, Religionen und Kulturen, die trotz aller Globalisierung scheinbar immer tiefer werden. Die Gegensätze zwischen Arm und Reich werden größer und die große Pandemie trifft die Armen dieser Welt ungleich härter als uns. Ist das nicht auch die Botschaft von Weihnachten? Die Botschaft, die die Gloriosa und die unzähligen Glocken in den Kirchtürmen am Heiligen Abend wieder hinausrufen? Gott kommt, um die Menschen zusammenzuführen. Er wird Mensch, um Risse zu heilen. Ja und er schaut mit Barmherzigkeit auf die Brüche in meinem Leben, auf meine Unvollkommenheiten und meine Schwächen. "Gott ist bei euch." Das ist nicht nur eine prägnante Adresse für eine Internetseite. Das ist die Botschaft von Weihnachten, die jedem Menschen gilt, auch in diesem Jahr. Die Orgel des Erfurter Domes nimmt diese Botschaft auf, wenn sie in den mächtigen Klang der Gloriosa einstimmt. Fürchtet euch nicht. Gott ist bei euch.

Musik: Glocken und Orgel - Orgelimprovisation Silvius von Kessel

Beim ersten Lockdown im Frühjahr gab es eine gemeinsame Aktion der evangelischen und katholischen Kirchen in Hessen. Jeden Abend um 19:30 Uhr sollten die Glocken aller Kirchen läuten und ein Hoffnungszeichen in diesen schwierigen Wochen geben. Ich kann mich an den Anruf einer Mutter in dieser Zeit erinnern. (Sie sagte:) "Herr Pfarrer, gestern Abend haben die Glocken unserer Kirche nicht geläutet. Wir standen mit unseren Kindern am Fenster und alle haben darauf gewartet. Doch es hat nicht geläutet." In der Familie war dies zu einem Ritual geworden: Jeden Abend standen die Eltern mit ihren kleinen Kindern am Fenster, um die Glocken zu hören, gemeinsam zu beten für die Menschen, die jetzt unter der Pandemie zu leiden haben. Danach ging es für die Kinder ins Bett. Das Beispiel der jungen Familie zeigt: Glocken verbinden. Aber: Hören wir sie überhaupt noch? Die Städte sind laut geworden. Manchmal haben die Glocken Mühe durchzudringen. Früher bestimmte ihr Schlagen die Zeit. Ihr Geläute begleitete die Menschen im Alltag. Auch in der Literatur haben sie ihre Spuren hinterlassen. "Wem die Stunde schlägt" lautet der Titel eines Romans von Ernest Hemingway. Er greift darin einen Gedanken eines englischen Lyrikers auf und schreibt: "Kein Mensch ist eine Insel im Innern seines Ichs, jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Ganzen; wenn ein Brocken von der Erde hinweggeschwemmt wird, wird Europa so viel kleiner… Jedes Menschen Tod vermindert mich, weil ich zur Menschheit gehöre. Darum frage ich nie, wenn es läutet, wem die Stunde schlägt: Sie schlägt immer für dich." Dieser Text von Hemingway hat für mich eine wichtige Botschaft: Es genügt nicht, sich gut zu informieren über die Konflikte in unserer Gesellschaft oder sich zu entrüsten über den Verfall von Werten. Jeder Mensch ist Teil des Ganzen, und es lässt sich nur Frieden schaffen, wenn jeder etwas dazu beiträgt. Kirche, Gesellschaft, Staat, das sind nicht irgendwelche Institutionen, sondern das sind wir alle. Es macht mir Sorge, dass immer mehr Menschen austreten, nicht nur aus der Kirche, sondern letztlich auch aus dem Grundkonsens unserer Gesellschaft. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes haben das prägnant im Begriff der "unantastbaren Würde jedes Menschen" auf den Punkt gebracht. Angesichts des Werteverlustes frage ich mich: Gibt es heute noch etwas "Unantastbares", das allen wichtig ist, über das es keine Diskussion gibt, das sozusagen heilig ist? Es ist schon ein Phänomen, dass dann, wenn es darauf ankommt, zusammen zu halten, sich um das Wohl des Nächsten zu sorgen, viele zunächst an sich selbst denken. Das wurde in diesem Jahr an den Regalen für Toilettenpapier und Nudeln deutlich. Ich kann mich noch erinnern. Ich hatte Anfang März ein jüngeres Paar an der Kasse vor mir. Die zwei hatten sich gefühlt für die nächsten Jahre mit Klopapier eingedeckt. Die Mengen waren noch nicht reglementiert.

Musik: F. Mendelssohn - Advent: "Lasset uns frohlocken" – Sechs Sprüche zum Kirchenjahr op. 79     

Wenn ich in diesen Tagen auf den Klang der Glocken höre, denke ich an ihre Botschaft, die den Menschen zuruft: "kommt zusammen". Und gerade die wechselvolle Geschichte der Gloriosa Glocke im Erfurter Dom macht deutlich, dass es wichtig ist, die Risse zu erkennen und zu schließen, damit Frieden wird. Das ist die Botschaft des Weihnachtsfestes, das wir in wenigen Tagen feiern. Die Kraft einer Glocke ist ihre innere Harmonie, ohne die sie ihrer klangvollen Botschaft beraubt ist und zur leeren Hülse wird. Das Wort Friede steht auf vielen Glocken. Eine häufige Inschrift lautet "Verleih uns Frieden gnädiglich". Vielleicht hören Sie ja auch von Ihrem Fenster eine Glocke an diesem Weihnachtsfest? Es ist ein Klang, der Ihnen vielleicht noch gar nicht recht aufgefallen ist. Aber die Glocken künden von Gottes Frieden, den er uns mit dem Kind von Bethlehem geschenkt hat. "Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden den Menschen auf Erden" dieses Lied hören die Hirten an der Krippe von Bethlehem. Ist das nicht eine Sehnsucht in uns allen?

Rein wissenschaftlich betrachtet gibt es den Klang der Glocke, den wir hören, gar nicht. Neben vielen Teiltönen ist der eigentliche Schlagton der Glocke rein physikalisch nicht messbar. Er bildet sich erst im Ohr des Hörers. Und genau wie mit dem Klang der Glocke verhält es sich auch mit dem weihnachtlichen Frieden. Erst in und durch Menschen wird er zur Wirklichkeit. „Verleih uns Frieden gnädiglich“, das ist nicht nur eine beliebte Inschrift von Glocken, das ist auch mein Wunsch für dieses besondere Weihnachtsfest. Welche Hoffnung liegt in dieser Bitte! Diesen Frieden wünsche ich Ihnen an diesem vierten Adventssonntag und für dieses so ungewöhnliche Weihnachtsfest 2020.

Musik:F.Mendelssohn „Verleih uns Frieden“

Musikauswahl: Regionalkantor Thomas Wiegelmann, Bad Orb

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren