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Der Vorlesetag
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Der Vorlesetag

Andrea Weitzel
Ein Beitrag von Andrea Weitzel, Katholische Schulseelsorgerin und Religionslehrerin, Hanau
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"Vorlesen heißt, gemeinsam Neues zu entdecken und zu lernen, einander zu verstehen." So steht es jedenfalls auf der Homepage zum heutigen Vorlesetag. Der Vorlesetag ist seit 2004 eine bundesweite Initiative von "Die Zeit", der "Stiftung Lesen" und der "Stiftung der Deutschen Bahn". So finden am 3. Freitag im November besondere Aktionen statt, bei denen Menschen einander vorlesen. Jüngere und ältere, prominente und nicht prominente Menschen zeigen an diesem Tag in einer geballten Aktion ihre Liebe zum Lesen. Damit ziehen sie ein begeistertes Publikum in ihren Bann.

Und was mache ich an diesem Vorlesetag 2020, der Corona-konform stattfinden wird? Nun, ich werde meine Familie erfreuen: Heute Abend wird bei uns vorgelesen – und zwar so: Auf dem Sofa gemütlich machen. Lieblingsbücher raus. Vorlesen und zuhören. Darauf freue ich mich schon jetzt. Und in diesem Fall bin ich mir sogar sicher – auch dem Rest meiner Familie wird es gefallen. Denn dieses einander Vorlesen, dieses Eintauchen in die Lieblingsgeschichten der anderen, schafft eine nahezu unbeschreibliche Atmosphäre der Innigkeit. Ja, ich kann die verheißungsvolle Ankündigung nachvollziehen: "Vorlesen heißt, gemeinsam Neues zu entdecken und zu lernen, einander zu verstehen."

Erinnere ich mich an vergangene Lesenachmittage zurück – daran, wie sich das Erzählen und Zuhören angefühlt hat – dann geschieht etwas in mir: Dann reisen meine Gedanken direkt rund 2000 Jahre zurück. Ich stelle mir Jesus vor, inmitten von Jüngeren und Älteren, Bekannten und noch Fremden. Wie Jesus dasitzt und die ihm vertrauten Schriften neu auslegt. Eine solche Vorstellung ist sicherlich erstmal angreifbar: Zu verklärt! Irgendwie fromm überhöht! – Akzeptiert! Aber so leicht gebe ich nun doch nicht auf.

Es gibt da nämlich eine Stelle in der Bibel, deren Einleitung das folgende Szenario vor Augen stellt: Unzählige Menschen sind Jesus gefolgt. Sie wollen ihm zuhören, sie wollen hören, was er von Gott zu sagen hat. Also lässt der Schreiber des Evangeliums Jesus auf einen Berg steigen und sich erstmal hinsetzen. Und dann beginnt Jesus. Er stellt vor Augen, auf was es im Leben ankäme. Er deutet und schafft eine christliche Identität. Er sagt Sätze wie: Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Sätze, die die sogenannte Bergpredigt des Matthäusevangeliums zu einem zentralen Text des Christentums machen.

Und als Jesus fertig ist, so berichtet die Bibel, sind die Menschen zutiefst gerührt von seinen Worten. Es deutet sich an, dass sie erkennen, wer Jesus nach dem christlichen Glauben ist – nämlich Gottes Sohn.

Ich bin mir sicher, dass die Stichworte des Vorlesetages auch damals zutrafen: "… gemeinsam Neues entdecken, lernen und einander verstehen." Ich sehe darin kein weltfremdes Abtauchen in eine plüschige Kuschelecke. Sondern eine das eigene Leben und Handeln grundlegend auf den Kopf stellende Erkenntnis. Dies bekräftigen auch die auf die Bergpredigt folgenden Erzählungen. In ihnen eröffnet Jesus ganz unterschiedlichen Menschen neue Lebensmöglichkeiten und integriert sie wieder in die Gesellschaft.

Damit ist meine Wahl für den heutigen Vorleseabend getroffen: Die Bergpredigt aus dem Matthäusevangelium. Und ich vertraue darauf, dass es mir gelingt, zumindest etwas von ihrer Intensität und Kraft lebendig werden zu lassen.

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