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Zum Davonlaufen?
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Zum Davonlaufen?

Dr. Michael Gerber
Ein Beitrag von Dr. Michael Gerber, Bischof von Fulda
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Manchmal ist es zum Davonlaufen: Ich habe lange auf ein Ziel hingearbeitet. Dabei habe ich viel Zeit und Energie investiert. Doch plötzlich kommt alles anders und ich stehe vor einem Scherbenhaufen. Manchmal ist es zum Davonlaufen: Da ist eine Freundschaft, die mich jahrelang getragen hat, die einfach zu meinem Leben dazugehörte. Ich habe geglaubt, wir gehen miteinander durch dick und dünn – und dann: Unsere Beziehung ist zerbrochen. Vielleicht hatte es sich schon länger angebahnt – vielleicht kam es auch sehr überraschend.

Manchmal ist es zum Davonlaufen. Ich habe geglaubt eine Aufgabe, eine Arbeitsstelle gefunden zu haben, die mir entspricht, in der ich meine Fähigkeiten verwirklichen kann. Doch dann die große Enttäuschung. Ich muss feststellen, dass das nicht mein Ort ist. Zum Davonlaufen? Die Bibel erzählt uns solche Geschichten vom Davonlaufen. Da sind die Frauen und Männer, die einige Zeit – vermutlich sind es zwei bis drei Jahre – mit Jesus unterwegs sind. Sie verlassen ihren gewohnten Arbeitsplatz und folgen Jesus nach. Die Beziehung mit Jesus prägt sie und erschließt ihnen neue Horizonte. Ihr Leben scheint plötzlich einen tieferen Sinn zu haben. Das, was sie mit Jesus erleben, wollten sie anderen Menschen weitergeben.

Doch dann wird Jesus grausam hingerichtet. Das ist ein Schock und eine Leerstelle, die sich nicht überbrücken lässt. Wie kann man damit weiterleben? Von einigen heißt es, dass sie sich einschließen. Nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Viele von uns kennen solche Momente, wo wir am liebsten niemanden mehr sehen wollen: Nach einer großen Enttäuschung, einem tiefgreifenden Verlust oder auch der Erfahrung, selbst versagt zu haben. Von einigen der Frauen und Männer, die mit Jesus unterwegs waren, heißt es, dass sie in den Tagen nach dem Tod Jesu weggehen aus Jerusalem. Wir können das auch so deuten: Sie haben es dort, wo die Erinnerung an das, was geschehen war, so lebendig war, nicht mehr ausgehalten. Sie mussten weg. Anders gesagt: Sie sind davongelaufen. Die bekannteste dieser Geschichten aus den Evangelien ist diejenige von den beiden Jüngern, die nach Emmaus unterwegs waren.

Eine andere biblische Erzählung aus dem Johannesevangelium berichtet uns davon, dass einige der Jünger aus Jerusalem dorthin zurückkehrten, von wo sie einst gekommen waren. Wir finden sie wieder am See Genesareth. Dort gehen die Jünger der Arbeit nach, die sie vor der Begegnung mit Jesus auch getan hatten: Sie machen ihre Boote flott und brechen in der Abenddämmerung auf, um auf dem See ihre Netze auszuwerfen.

Musik: Sammertini,  Konzert für Flöte und Orchester F-Dur, Siciliano    

Zum Davonlaufen? Warum gehen die Jünger in dieser Situation nach dem Tod Jesu wieder an den See Genesareth zurück, dahin, wo sie einst aufgewachsen sind? Eine mögliche Deutung ist diejenige: Zwei bis drei Jahre waren sie mit Jesus unterwegs. Es war eine erfüllende Zeit. Aber es war ein Abschnitt ihres Lebens, der mit dem Tod Jesu ungeheuer schmerzhaft endete. Da ist es nachvollziehbar, dass sie zurück wollen in das Leben, das sie zuvor geführt hatten. Der angestammte Ort soll ihnen helfen, das zu vergessen, was zwischen dem Aufbruch mit Jesus damals und der gegenwärtigen Situation gelegen hat.

Die Jünger scheinen alles daran zu setzen, dass es wieder so wird, wie es früher war. Deshalb die nächtliche Ausfahrt auf den See, deshalb der gemeinsame Fischfang. Doch es gelingt nicht. „Aber in dieser Nacht fingen sie nichts“ (Joh 21,3) – heißt es knapp und doch aussagekräftig im Johannesevangelium. Der Neustart klappt nicht. Vielleicht kennen Sie solche Situationen aus Ihrem eigenen Leben. Da gibt es eine Episode, die sehr schmerzlich endete. Sie haben das Bedürfnis, das, was diese Zeit geprägt hat, zu vergessen. Daher bemühen Sie sich, wieder zurück in die Situation zuvor zu finden. Doch das gelingt nicht. Die Zeit hat sich verändert und Sie haben sich verändert. Es gibt keinen Weg mehr einfach zurück.

Waren die Jünger damals davongelaufen, als sie sich auf den Weg zum See Genesareth machten? So kann man es deuten. Aber es gibt auch noch eine andere Deutemöglichkeit. Der See erinnert sie auch an die ersten Begegnungen mit Jesus. In der Bibel wird das so dargestellt, dass jene einfachen Männer und Frauen von diesen Begegnungen sehr tief berührt waren. Warum? Die unterschiedlichen Erstbegegnungen mit Jesus haben eines gemeinsam: Menschen erfahren: Da geht es jemandem – Jesus – um mich. Da geht jemand auf mich zu, da interessiert sich jemand für mich. Das ist das tiefe Grundbedürfnis, das die meisten Menschen im Herzen haben.: Dass ich angeschaut werde, liebevoll angeschaut werde und dass sich jemand für mich interessiert. Ich habe die Sehnsucht, dass sich jemand für mich interessiert, weil ich ich bin, nicht, weil er oder sie mich für irgendein Projekt braucht. Ich habe die Sehnsucht, dass sich jemand für mich interessiert, weil er oder sie möchte, dass ich wachse. Genau das scheinen die unterschiedlichen Frauen und Männer auf je unterschiedliche Weise mit Jesus erlebt zu haben.

Der See Genesareth ist für sie also ein Ort, der mit einer Erfahrung verbunden ist, ein Ort, der eine ganz tiefe Sehnsucht in ihnen berührt. Ob dieser Ort, jetzt in der neuen Situation, nach dem großen Verlust, auch ein heilsamer Ort sein kann? Ob der Weg der Frauen und Männer an den See zurück auch ein Sehnsuchtsweg ist – ich möchte neu und in meiner Tiefe berührt werden? Von der biblischen Begebenheit hinein in die Gegenwart: Gibt es in meinem Leben solche Orte, an die ich gehen kann, an die ich real gehen kann oder an die ich mich geistig versetzen kann? Gibt es solche Lebensorte, die in meiner Biografie eine Rolle spielen, wo ich die Erfahrung gemacht habe, dass ich tief in meiner Sehnsucht berührt wurde, wo ich die Erfahrung machen durfte, dass ich gewachsen bin, wo ich die Erfahrung tiefer Beziehung machen konnte.

Der Weg der Jünger nach Ostern führt durch die Steppen und Wüsten Judäas und Samariens zurück an den See. Kenne ich meine Lebensorte und kenne ich den Weg dahin? Kenne ich Orte, wo ich weiß, die tun mir gut, und kenne ich Beziehungen, wo ich erfahren darf, die bauen mich auf?

Musik: Georg Friedrich Händel, Concerto grosso G-Dur, op.6 Nr. 1, Allegro       

Für die Frauen und Männer, die nach dem Tod Jesu wieder an den See ihrer Kindheit und Jugend zurückgekehrt waren, bleibt dieser Ort – so berichtet es uns das Johannesevangelium – nicht einfach ein Ort, an dem sie sich an Früheres erinnern. Sie werden herausgefordert, einen neuen Weg zu gehen. Das ist nicht einfach, wenn man zuvor gescheitert ist. Ihr Fischfang in der Nacht war vergebens. Was über Jahre hinweg selbstverständlich war, gelingt jetzt nicht mehr. Doch dieses Mal steht da einer am Ufer und fordert die Fischer heraus, am frühen Morgen noch einmal aufzubrechen. Soll die Erfahrung der Vergeblichkeit noch einmal gesteigert werden? Die Fischer wissen doch, dass sie die Netze am Abend auslegen müssen, denn dann sind die Ströme der Fische so, dass ein guter Fang möglich ist.

Die Stimme, die da am frühen Morgen zum erneuten Fischfang aufruft, erinnert an jene Stimme, die damals aufgerufen hatte, die Netze liegen zu lassen und Jesus nachzufolgen. War auch das damals nicht letztlich ein Weg in die Vergeblichkeit? Und doch scheint in der Stimme etwas mitzuschwingen, was eine tiefere Seelenschicht anspricht – eben die Sehnsucht, angesprochen zu werden. Diese einfachen Fischer stehen hier an einem entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens. Bleiben wir diejenigen, die vom Leben bitter enttäuscht sind, oder geben wir dem Leben eine zweite Chance? Der Klang der Stimme scheint ihnen in dieser Situation die Kraft zu geben, erneut hinaus auf den See zu fahren. Es geht hier längst nicht einfach nur um eine morgendliche Bootsfahrt mit der Suche nach Fischen. Die Fahrt auf den See steht für die Entscheidung, das Leben wieder in die Hand zu nehmen.

Musik: Antonio Vivaldi, Concerto für Flöte und Orchester c-moll, Largo      

Was hat die Fischer aufbrechen lassen? Ich glaube, dass diese Frauen und Männer den ersten Klang jener Stimme Jahre zuvor tief in ihrem Herzen bewahrt haben. Sie haben dieser Erfahrung einen Raum gegeben. Das ist eine grundlegende Botschaft, die uns die Bibel überhaupt vermitteln möchte. In ihr stecken viele Erzählungen, in denen Menschen eine tiefe, existenzielle Wertschätzung erfahren haben. Im Judentum und davon ausgehend im Christentum entwickelte sich die Tradition, diese Texte immer wieder zu lesen und zu hören. Was wir regelmäßig tun, das prägt uns, was wir regelmäßig hören, prägt auch unser Selbstbewusstsein. Das Hören dieser Texte können wir als Einladung verstehen, die Texte, also die Geschichten unseres Lebens neu zu lesen. Welche Geschichten trage ich in mir, welche Situationen, in denen ich meine Würde sehr tief erfahren habe? Welche Kraft, welche Resonanz gebe ich diesen Geschichten meines Lebens? Was hilft, dass diese Geschichten in mir eine Dynamik entfalten, die gerade dann entscheidend sein kann, wenn alles zum Davonlaufen ist?

Von den Jüngern heißt es, dass sie dann am Morgen tatsächlich gefüllte Netze einfahren konnten. Es gelingt ihnen nicht, die Netze ins Boot zu hieven. Wir können uns das bildlich vorstellen, wie das Boot in Schräglage gerät. Es bleibt die Unsicherheit, was geht hier vor? Das in den Wellen schwankende Boot mit leichter Schieflage, ein gutes Bild für die Seelenlage der Jünger. Trägt die neue Erfahrung? Kann ich nach der großen Enttäuschung der neuen Erfahrung trauen? Was von mir dann bei allem Abwägen gefordert sein wird, bringt Petrus zum Ausdruck. Er springt aus dem Boot in den See. Es ist ein Sprung hin auf den zu, der ihn kurz zuvor aufgefordert hat, wieder hinaus auf den See zu fahren. Es ist ein Sprung auf den hin, in dessen Stimme er einst eine nie gekannte Wertschätzung erfahren hatte. Zu menschlichen Lebenswegen gehören solche Sprünge, die bisweilen wie der Sprung ins kalte Wasser erfahren werden können. Es ist der Sprung hin auf ein Du. Ich darf hoffen und glauben, dass in der Beziehung zu diesem Du eine entscheidende Dynamik für mein Leben steckt.

„Jesus, gib mir ein Herz, das sich deinem Wort und deiner Treue überlässt und zu tun wagt, was es noch nie getan hat.“ So lautet der Schluss eines Gebetes, das mir in einer grundlegenden Entscheidungssituation sehr wichtig geworden ist. So wünsche ich Ihnen den Mut zu springen. Ich wünsche Ihnen gerade da, wo der Sprung Sie in so manche Ungewissheit führt, die Erfahrung: Ich kann mich ihm überlassen und er schenkt mir tiefe innere Freiheit und Weite. Von ganzem Herzen wünsche ich Ihnen einen gesegneten Sonntag.

Musik: Antonio Vivaldi, Concerto in B für Trompete und Orchester, Allegro   

Musikauswahl: Regionalkantor Thomas Wiegelmann, Bad Orb

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