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Wer kommt da auf die Welt?
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Wer kommt da auf die Welt?

Dr. Dr. h.c. Volker Jung
Ein Beitrag von Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt
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Draußen ist es lange dunkel, drinnen leuchten die Lichter. Wärme und Kälte nah beieinander. Die Adventszeit hat eine besondere Atmosphäre. Weihnachten steht vor der Tür. Stille Momente wechseln sich ab mit vielen Erledigungen. Wir bereiten uns vor. Die Erwartungen sind groß, nicht nur bei den Kindern. Man spürt: Es liegt etwas in der Luft. Aber was ist das genau?

Ein ganz besonderes Fest wird vorbereitet

Ein Fest wird vorbereitet. Gefeiert wird die Geburt des Jesus von Nazareth. Ein besonderes Kind – der Sohn Gottes, in dem Gott selbst auf die Welt kommt. Darin steckt ein großer, ein kaum zu fassender Gedanke: Gott, Ursprung und Schöpfer dieser Welt und allen Lebens, ist nicht irgendwo weit weg, sondern in einem Menschenleben – mitten in dieser Welt. Wer sich von der Größe und Tiefe dieser Botschaft berühren lässt, sieht das Leben mit anderen Augen. Dieser Blick bringt vieles Durcheinander, was sonst im Leben gilt und was Menschen denken und fühlen.

Eine junge Frau steht unversehens in einem vollkommen umgekrempelten Leben

Deshalb möchte ich mich dieser Geschichte langsam nähern. Eine junge Frau weist mir dabei den Weg. Sie steht zunächst ganz am Rande und findet sich dann unversehens mittendrin wieder – in einem vollkommen umgekrempelten Leben. Mit ihrer Geschichte beginnt der Evangelist Lukas in der Bibel die wunderbare Weihnachtserzählung von der Geburt des Kindes.

Musik: Jochen Klepper, Die Nacht ist vorgedrungen (Kay Johannsen, Orgel)

Der Engel Gabriel überbringt Maria eine unglaubliche Nachricht

Maria ist ein junges Mädchen. Früh verlobt, wie es damals üblich war. Sie lebt in Nazareth vor 2000 Jahren. Wie aus dem Nichts tritt ein Engel zu ihr. Sein Name ist Gabriel. Er sagt zu ihr:

Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben. (Lukas 1,30b-33)

Wie soll das gehen?

Schon die bloße Erscheinung eines Engels muss ein Mensch erst einmal verkraften. Aber was der Engel sagt, kann Maria nur zutiefst verwirren: Schwanger? Und dann soll das Kind sogar noch ein König sein! Sogar Sohn des Höchsten, Sohn Gottes! Und das von ihr, dem unbedeutenden Mädchen aus Nazareth. All das ist so unglaublich, dass Maria den Engel erst einmal erschrocken fragt. „Wie soll das gehen?“ Sie hat doch noch nie mit ihrem Verlobten Josef geschlafen – und auch mit keinem anderen.

Bei Gott ist kein Ding unmöglich.

Der Engel redet von Gottes Kraft, die alles vermag. Wie zum Beweis erzählt der Engel ihr von einer anderen Frau, von Elisabeth. Maria ist mit ihr verwandt. Allerdings ist Elisabeth viel älter. So alt, dass sie als unfruchtbar gilt, weil sie in all den Jahrzehnten kein Kind bekommen hat. Der Engel erzählt, dass auch Elisabeth nun schwanger ist – schon im sechsten Monat. "Bei Gott ist kein Ding unmöglich.", sagt der Engel und lässt Maria allein zurück.

Maria flüstert ihm noch hinterher, was ein frommes Mädchen in dieser Situation wohl sagen muss: "Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast." Sie will Gott dienen, auch wenn Gott sie in eine so tiefe Verwirrung stürzt.

Viele Fragen schwirren in Marias Kopf

In Marias Kopf schwirren viele Gedanken: Wer wird ihr das glauben? Was wird Josef tun? Wird er sie verlassen? Was werden die Leute sagen? Werden sie Maria verstoßen und verachten? Für ein schwangeres Mädchen ohne Mann ist in der damaligen Gesellschaft kein Platz, nur Erniedrigung. Maria wird bewusst, dass ihr noch junges Leben aus der Bahn geworfen ist. Was tun? Mit wem reden?

Maria macht sich auf den Weg zu Elisabeth

Der Engel Gabriel hat ihr einen Hinweis gegeben: Elisabeth. Die Frau, die in hohem Alter schwanger geworden ist. Maria macht sich schnell auf den Weg zu ihr, hinauf ins Gebirge nach einer Gegend namens Juda. Was Maria auf dem Weg denkt und fühlt, berichtet der Evangelist Lukas nicht. Aber man kann es sich leicht vorstellen, wie unruhig, mit wie viel Angst sie unterwegs ist.

Maria durch den Dornwald ging

Besonders anrührend beschreibt das ein Lied aus dem 16. Jahrhundert: „Maria durch den Dornwald ging“. Es erzählt von Maria auf ihrem Weg durch einen dürren Dornenwald. Die Dornen stehen symbolisch für viele bohrenden Fragen und stechenden Zweifel, die sie innerlich aufwühlen. Doch das Lied akzeptiert den Dornwald nicht als Symbol für den Tod. Es singt vom Wald als Symbol für neues Leben. In dem Lied heißt es: „Maria durch den Dornwald ging, der hat in sieben Jahren kein Laub getragen. Was hat Maria unter ihrem Herzen? Ein Kindlein ohne Schmerzen, das trug Maria unter ihrem Herzen. Da haben die Dornen Rosen getragen, als das Kindlein durch den Wald getragen.“

Musik: Ch. Schmidt (Arrangement), Maria durch den Dornwald ging (Die Singphoniker)

Zwei schwangere Frauen - bei der einen darf es nicht sein, bei der anderen hat keiner mehr damit gerechnet

Maria geht zu Elisabeth. Beide sind schwanger. Und doch sind sie in ganz unterschiedlicher Lage. Die junge Maria mit ihrer Schwangerschaft, die eigentlich nicht sein darf. Sie schämt sich. Sie hat Angst, verachtet zu werden. Sie ist unsicher, was werden wird. Ganz anders die betagte Elisabeth. Längst hat sie gelernt, mit der Schmach zu leben, kinderlos zu sein. Niemand hat mehr damit gerechnet, dass sie schwanger werden könnte.

Elisabeth wird aus ihrer Schmach befreit

Sie sind beide fromme Frauen. Sie erkennen, dass Gott ihr Leben verändert und in ihnen etwas Besonderes geschehen lässt. Was sie bisher erleben und erfahren, wird von Gott durchbrochen. Elisabeth wird aus ihrer Schmach befreit. Mit dem Kind, das in ihrem Leib heranwächst, kommt neues Glück in ihr Leben und das Leben ihres Mannes Zacharias. Sie spürt, was in ihrem Leib geschieht, als Maria bei ihr ankommt. Der Evangelist Lukas beschreibt es so:

Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes!

Und es begab sich, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe. Und Elisabeth wurde vom Heiligen Geist erfüllt und rief laut und sprach: Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes! Und wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, als ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte das Kind in meinem Leibe. (Lukas 1,41-43)

Elisabeth erkennt das Kind in Marias Leib

Elisabeth versteht also, was mit Maria vor sich geht und wen sie in ihrem Leib trägt. Das wird Maria gutgetan haben: Jemand versteht sie. Und grenzt sie nicht aus. Sie wird geachtet und nicht erniedrigt. Was zwischen den beiden Frauen geschieht, deutet an, was das Besondere des Kindes sein wird, das Maria zur Welt bringen wird. Seine Nähe bringt Menschen zusammen. Sie werden zum Segen für die anderen. Seine Nähe führt heraus aus Erniedrigung. Seine Nähe befreit zum Leben. Maria fasst das in bewegende Worte:

Marias bewegende Worte

Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes, denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind und ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. (Lukas 1,46-53)

Maria stimmt ein Triumphlied an

Maria stimmt ein Freudenlied an – mehr noch: ein Triumphlied. Ihr Schicksal ist anders als das vieler Frauen damals, die Gewalt erleiden und erniedrigt werden. In den patriarchalen Regeln der Gesellschaft damals und unter der römischen Besatzungsmacht hatten viele Menschen unter Gewalt und Erniedrigung zu leiden, insbesondere Frauen. Es ist furchtbar, dass so etwas immer wieder geschieht. Auch heute. Doch es soll ein Ende finden. Maria denkt daran, was sie jetzt selbst erlebt.

In Marias Worten scheint eine neue Wirklichkeit auf

Aber sie denkt noch viel weiter. Was sie mit Gott erlebt hat, weitet ihren Blick auf die Welt. Gewalt soll ein Ende nehmen. Die Gewalttätigen sollen von ihrer Macht befreit und die Niedrigen aus dem Staub erhöht werden. Hungrige sollen satt werden und Reiche leer ausgehen. In Marias Worten scheint eine neue Wirklichkeit auf. Das hofft und erwartet Maria für die ganze Welt, weil sie am eigenen Leib Gottes Segen erfährt.

Musik: Giovanni Gabrieli, Magnificat (Gabrieli Consort & Players unter Paul McCreesh)

Maria und Elisabeth finden Halt aneinander

Maria bleibt drei Monate bei Elisabeth. Die beiden haben viel Zeit für Gespräche. Worüber sie sprechen, erzählt die Bibel nicht. Aber doch so viel, dass klar wird: Die Frauen finden Halt aneinander. Gemeinsam stärken sie sich für das, was vor ihnen liegt.

Die Weihnachtsgeschichte beginnt

Dann kehrt Maria zurück nach Hause, zu ihrem Verlobten Josef. Der verlässt sie nicht, sondern bleibt bei ihr. Die Weihnachtsgeschichte beginnt. Wegen einer Volkszählung müssen die beiden nach Bethlehem. Dort finden sie kein Bett zum Übernachten. Das Kind wird nachts in einem Stall geboren. Die erste Nacht seines Lebens ist eine Nacht in einer Futterkrippe.

Die Menschen hoffen auf das, was Jesus sagt

Die Geschichte von Jesu Geburt ist so etwas wie ein Vorausblick auf sein Leben. Jesus erlebt, dass Menschen mit ihm viel Hoffnung verbinden. Sie hoffen auf das, was er sagt, und vor allem, was er für sie tut. Jesus erlebt, dass er abgelehnt und verfolgt wird. Am Ende wird er hingerichtet. Er stirbt am Kreuz – draußen vor der Stadt. Was für ein Leben!

Gottes Kraft ist stärker als alle Kräfte in dieser Welt, sogar stärker als der Tod

Nicht das, was Eltern für ihr Kind wünschen. Auch nicht das eines starken Helden, der glorreich und siegreich durch die Welt zieht. Aber: In diesem Menschen kommt Gott in diese Welt. Gott verbindet sich mit dem Leben und Sterben eines Menschen. Damit Menschen Vertrauen fassen in Gottes Güte und Nähe. Sie sehen: In Jesus wird Gott erniedrigt und gekreuzigt. Doch am Ende befreit Gottes Kraft Jesus aus der Macht des Todes und schenkt ihm neues Leben. Gottes Kraft ist stärker als alle Kräfte in dieser Welt, ja sogar stärker als der Tod. Das Tor zum Leben bei Gott steht offen. Der Engel hat es der Maria gesagt: Bei Gott ist nichts unmöglich.

Gott steht auf der Seite des Lebens

Das kann große Erwartungen wecken: Ein Leben ohne Erniedrigung und Gewalt, ohne Schmerz und Tod. Doch Gott nimmt nicht einfach weg, was schwierig und schwer ist im Leben. Es wird sie immer geben, die harten Lebenserfahrungen: Unrecht, Schmerz, Abschied, Trauer. Es wird immer Wegstrecken geben, die durch einen Dornenwald führen. Das Schwere verschwindet nicht einfach aus dem Leben. Aber Gott billigt das damit nicht einfach. Gottes Sohn hat Unrecht, Hass, Gewalt und den Tod erlitten. Gott hat ihn aber nicht im Tod gelassen. Gott steht auf der Seite des Lebens. Was Menschen Jesus angetan haben, hatte nicht das letzte Wort. Das ist der schärfste Widerspruch gegen alles Leiden, das Menschen sich zufügen.

Musik: Joachim Schreiber, Gloria (Kölner Vokalsolisten)

Gott kommt in einem Kind zur Welt

Gott kommt in einem Kind zur Welt. Diese Erzählung ist ein scharfer Widerspruch gegen jedes menschliche Verhalten, das Kinder erniedrigt und ihnen Leid zufügt. Gegen alles Leid, was Menschen sich gegenseitig zufügen. Sie widerspricht jeder Art zu leben, die das zerstört, was Menschen zum Leben brauchen. Es ist auch ein scharfer Widerspruch gegen jedes Verhalten, dass sich vor der Not anderer verschließt, zum Beispiel indem Flüchtlinge für politische Zwecke missbraucht und abgewiesen werden.

Maria singt von dem, was Jesus später verkünden wird

Maria singt von der Not der Erniedrigten und der Überheblichkeit der Mächtigen. Sie singt von der Barmherzigkeit Gottes, die der Liebe zum Sieg verhelfen wird. Damit nimmt sie bereits vorweg, was das Kind in ihrem Leib, Jesus, später verkündigen wird. Sie schärft den Blick auf die, die Not leiden. Aber auch auf diejenigen, die rücksichtslos andere in Not bringen. Sie tritt beidem bereits entgegen und fordert auf es ihr nach zu tun – im Namen von Jesus Christus.

Gott kommt in die Welt, damit wir Segen erfahren

Um nichts Geringeres geht es am Weihnachtsfest. Es naht. Heute ist bereits der 4. Advent. Wer sich auf die Erzählung vom Weihnachtsfest einlässt, kann feiern, dass Gott in unsere Welt kommt – in seinem Sohn Jesus Christus. Gott kommt in die Welt, damit wir Segen erfahren. Damit Gottes Nähe unser Leben berührt. Damit Gottes Kraft und Gottes Geist uns stärken für ein gutes, ein menschliches Leben zusammen. Damit wir uns bei Gott geborgen wissen – in Zeit und Ewigkeit.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten 4. Advent!

Musik: Johann Sebastian Bach, Gloria sei Dir gesungen, (Bach Collegoim Japan unter Mazaaki Suzuki)

 

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