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Volle Hingabe
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Volle Hingabe

Norbert Mecke
Ein Beitrag von Norbert Mecke, Dekan, Evangelischer Kirchenkreis Melsungen

Teil 1:

Eine Zeitlang habe ich gedacht, Karfreitag spielt keine große Rolle mehr. Jahrhunderte wurde der Tag als bedeutendster Feiertag verstanden: Jesus stirbt am Kreuz. Und mit ihm nicht irgendeiner. Die Menschen richten den hin, der mit Worten und Taten in bis dahin nicht dagewesener Weise der Liebe Gottes Ausdruck verleihen wollte. Eine Liebe, die alles gibt, ganzen Einsatz fährt. Sogar, wenn es ihr an den Kragen geht. Und wäre es der Tod. Was für eine Hingabe! Jesus wollte zeigen: Genauso aufopferungsvoll liebt Gott – das gilt für Dich! Aber das mit der Hingabe des einen für andere, scheint eine altertümliche Vorstellung zu sein.

Ist sie das?

Da stehe ich am Rande des Reinhardswaldes beim Frühlingsspaziergang plötzlich vor einem hüfthohen Findling, der als Gedenkstein am Feldweg platziert wurde. Menschen aus dem nordhessischen Ort Holzhausen haben daran eine Gedenktafel angebracht:

„Düsenjägerabsturz am 19. 10. 1954: Der britische Pilot starb, um unser Dorf zu retten.“ Zeitzeugen berichten von dem brennenden Flugzeug, das in wenigen Metern Höhe aus dem Reinhardswald auftauchte – bombenbestückt. Hätte der Pilot des Übungsfluges vor allem an sein Leben gedacht und den Schleudersitz betätigt – es wäre zu einer Katastrophe in Holzhausen gekommen. Er steuerte den Jet knapp über die letzten Häuser. Eine gewaltige Detonation. Der Tod des Einen ermöglichte den Vielen das Weiterleben. Ganz real geschehen. Gar nicht altertümlich gedacht.

Das beweisen auch die großen Erzählstoffe der Gegenwart. „Harry Potter“ - der größte mehrbändige Buch- und Filmerfolg der 2000er Jahre webt seine Geschichte rund um den Zauberschüler, der doch nur lebt, weil sich seine Mutter aus Liebe hingegeben hat. Das hinterließ eine Spur, ist eine Kraft, die ihn oft vorm Untergang bewahrt und trägt. Und am Ende ist es Harrys eigene Bereitschaft zur Selbsthingabe, die die Welt vor dem Bösen retten soll. Plagiat-Jäger würden schnell entdecken, dass die Potter-Bände nicht nur bibeldick, sondern im Duktus auch leicht bibelkopiert sind.

Aber das ist ja nun nicht schlimm. Es zeigt vielmehr, dass die Geschichte des Einsatzes des Einen bis zur Selbstaufgabe zugunsten der Vielen noch immer berührt.

„Niemand hat größere Liebe, als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde!“, hatte Jesus gesagt (Johannes 15, 13).

Vielleicht spielt ja der Karfreitag nach wie vor eine größere Rolle als man wahrhaben will.

Teil 2:

Vielleicht spielt ja der Karfreitag nach wie vor eine größere Rolle als man wahrhaben will.

Wo jemand anderes für mich richtig viel in die Waagschale wirft, berührt es mich. Als mir vor einigen Jahren ein sehr vertrauter Weggefährte einen schweren Schnitzer vergeben hat, war so ein Moment. Ich hatte sein Vertrauen enttäuscht. Das war ein tiefsitzender Schmerz für ihn gewesen; dass ich ihm nach wie vor wichtig war, der Motor mich nicht einfach enttäuscht abzuschreiben.

Als wir uns ausgesprochen haben, hatte er Tränen in den Augen. Es war mit Händen zu greifen, wie sehr er innerlich kämpfte. Und für mich war völlig offen: Jagen mich meine Schuld und sein gutes Recht mich am Ende vom Hof? Oder gewinnen seine Liebe und Wertschätzung mir gegenüber die Oberhand? Die Tränen zeigten den Schmerz, den er empfand. Durch mich verursacht. Er schmiss ihn nicht mit Vorwürfen zurück. Er ließ nicht zu, dass aus Schmerz Hass wurde. Und als ich am Ende sein „Ich vergebe Dir!“ hören durfte, war das wie ein Befreiungsschlag. Da schossen bei mir die Tränen hoch. Umarmung.

Ich glaube, er hatte das, was eigentlich ich an Reaktion und Abstrafung verdient hätte, in seinem Herzen ausgetragen und die Liebe gewinnen lassen. Im Moment seiner Worte und Tränen offenbarte sich dieser Sieg der Liebe. Mit viel Arbeit errungen. Alles andere als ein Klacks. Ein Kraftakt.

So ist es, wenn es bei der Liebe zum Schwur kommt. Worte findet sie leicht. Aber wenn sie sich beweist, ist es oft mit Schmerz verbunden. Mit Leidenschaft.

Da wirft sie sich in die Waagschale. Das Leben des einen Piloten für das Überleben der vielen im Dorf. Das letzte Hemd der Mutter für das geliebte Kind. Unser Einsatz, wo uns Menschen am Herzen liegen.

Überall da fordert nicht irgendwas ein Opfer – weder eine höhere Macht noch irgendeine Gesetzmäßigkeit. Es wohnt der Liebe die Hingabe inne. Das macht die Liebe manchmal so leidvoll, leidenschaftlich und zugleich so wunderbar.

Karfreitag erzählt eine Liebesgeschichte. Hält nicht nur Worte fest. Berichtet von einer Tat. Von Gott, der seine Menschen liebt. Nicht heroisch. Sehr verletzlich. Ohne auszusteigen, wenn ´s drauf ankommt. Wo Menschen ihre schlimmste Fratze zeigen und sich ihre Abgründe auftun, hält er es aus. Nicht nur theoretisch. Fassbar: Lässt sich auf ´s Lieben festnageln.

Karfreitag ist wie ein Gedenkstein am Weg: „Starb, um zu retten!“. Will anrühren und eine Spur hinterlassen: Von solcher Liebe bin ich getragen! Und wenn ich sie noch so strapaziere. Ja, selbst, wenn sie für mich keine große Rolle zu spielen scheint. Sie hält. Hält auch den Schmerz aus, den Menschen kosten können. Kein Klacks. Ein Kreuz!

Mir zeigt es: Komme, was wolle: Bei Gott selbst ist Herz Trumpf.

Teil 3:

Bei Gott selbst ist Herz Trumpf.

„Na toll!“, mag man denken. „Spielt Trumpf aus und verliert den ganzen Stich.“ Denn schließlich stirbt Jesus, der diesen tiefen Einblick in Gottes Herz gibt, am Karfreitag.

Was soll daran Feiertag sein, wenn jemand stirbt? An Feiertagen wollen wir tanzen und nicht trauern. Hoch die Tassen und nicht Trübsinn blasen. Uns frei fühlen und nicht auf Schuld angesprochen werden.

Nur: Manchmal schmeckt man die Freiheit erst richtig, wenn man erlebt, dass sie wert und teuer ist. Manchmal weiß man Freundschaft erst richtig zu schätzen, weil sie sich in Tiefen bewährt hat. Manchmal tanzt es sich besonders beswingt, nachdem ein Bruch endlich ausgeheilt ist.

Karfreitag bebildert, wie teuer und wertvoll wir Gott sind. Dass sich Freundschaft mit ihm selbst in Todestälern bewährt. Und dass es keine Brüche in der Beziehung zu ihm gibt, die er nicht wieder heilen könnte.

Am Ende wird getanzt. Im Dorf am Reinhardswald bilden rund um den Gedenkstein für den Piloten jedes Jahr Schneeglöckchen einen Reigen und läuten still ein, dass das Leben den Sieg behält. Wie ein Hoffnungszeichen – auch für den dort bedachten Retter.

Am Ende wird getanzt. Auch in den Trümmern von Hogwarts. Nach dem Showdown im Wald erlebt Harry Potter so etwas wie eine Auferstehung. Und doch gilt es, zunächst die scheinbare Niederlage auszuhalten. Dann aber bewährt sich, was schon in den Grabstein seiner Mutter gemeißelt steht: „Der letzte Feind, der besiegt wird, ist der Tod!“ (1. Kor 15, 26)

Das weht von Ostern her auch in den Karfreitag hinein. Natürlich muss man nicht so tun, als wüsste man es nicht. Wer Karfreitag die Geschichte von Jesus für beendet erklärt, hat sie ausgeknipst, bevor das Finale erreicht ist, in dem Gott ihn bestätigt.

Wer aber den Tiefgang und die Tragweite von Gottes Leidenschaft für seine Menschen übersieht, also Karfreitag ausblendet, der verpasst den heimlichen Höhepunkt der Geschichte mit seiner Welt. Und ich füge an: und mit mir!

Eine Zeitlang habe ich gedacht, Karfreitag spielt keine große Rolle mehr. Aber wenn Gottes Liebe so standhaft ist, spielt das eine entscheidende Rolle:
Es ist die Basis, ihm vertrauen zu können. Beim Tanz durchs Leben. Und an den Tiefpunkten, wo alles stockt und ich ins Stolpern gerate.
Ja, Karfreitag ist ein besonderer Feiertag: Volle Hingabe!
Was sind wir geliebt!

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