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Umstrittener Karfreitag
Bildquelle: Myriams-Foto/Pixabay

Umstrittener Karfreitag

Karl Waldeck
Ein Beitrag von Karl Waldeck, Pfarrer, ehem. Direktor Evangelische Akademie Hofgeismar, Kassel
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Heute ist Karfreitag. Der Karfreitag erinnert an den Tod Jesu – einen gewaltsamen Tod: Jesus von Nazareth wurde nach römischem Recht verurteilt und hingerichtet – auf eine äußerst brutale Weise: durch Kreuzigung. Eine Strafe, die Sklaven und Aufrührern vorbehalten war.
Gedenken an diesen Tod rund 2000 Jahre später. Karfreitag ist in Deutschland gesetzlicher Feiertag – so wie in vielen Ländern Europas und darüber hinaus. Doch nicht überall: In Italien ist Karfreitag kein Feiertag, in unserem Nachbarland Österreich kann man sich, so sieht es eine neue Regelung vor, einen individuellen Feiertag wählen: Karfreitag oder einen anderen Tag. Es sind vor allem evangelisch geprägte Länder und Landstriche, in denen der Karfreitag eine große Bedeutung hat – mehr als etwa in römisch-katholischen.
Karfreitag ist ein gesetzlicher Feiertag; er gehört zu den sogenannten „stillen Feiertagen“. Für sie gelten besonders strenge Regeln, etwa im hessischen Feiertagsgesetz: keine öffentlichen Tanzveranstaltungen, keine Sportveranstaltungen; auch keine öffentlichen Veranstaltungen unter freiem Himmel, außer sie tragen einen dem Feiertag entsprechend ernsten Charakter. Auch Rundfunksendungen sollen auf den Charakter des Feiertags Rücksicht nehmen.
Der Karfreitag ist umstritten, auch vor Gericht. Gegen die strikten Rahmenbedingungen der Feiertagsruhe wurde wiederholt geklagt. Die Regeln sind grundgesetzkonform, hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Niemandem werde eine innere Haltung vorgeschrieben, sondern es sei lediglich ein äußerer Ruherahmen festgesetzt. Andererseits erklärte dasselbe Gericht ein generelles Tanzverbot für verfassungswidrig. Dadurch würde die Versammlungs- und Weltanschauungsfreiheit verletzt. Der Karfreitag sei zwar als stiller Tag besonders geschützt; jede Befreiungsmöglichkeit von vornherein auszuschließen, sei jedoch unverhältnismäßig.

Musik           A. Pärt: Cantus

Karfreitag - ein Feiertag. Ein umstrittener Feiertag. Nicht nur, weil sich Gerichte bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht mit ihm beschäftigen. Umstritten ist er bei denen, denen der christliche Glaube und der Sinn des Karfreitags fremd geworden sind – und die den Karfreitag wie jeden anderen Tag begehen wollen: bevorzugt als freien Tag, auch zum Feiern mit Tanz und Vergnügung, etwa als „carfreitag“ mit getunten Autos. Verzicht per Gesetz wird als Einschränkung und unzulässige staatliche Einmischung in die individuelle Lebensführung verstanden. Doch selbst für Menschen, die sich als religiös, als Christen empfinden, hat der Karfreitag seine einst herausragende Bedeutung verloren. Die Zahl der Gottesdienstbesucher ist statistisch zumindest für einen Feiertag niedrig. Sollte einer der zentralen Feiertage speziell im evangelischen Raum zu einem marginalen Ereignis geworden sein? Die Osternacht als Fest der Auferstehung Christi hat dem Karfreitag längst den Rang abgelaufen.
Woran liegt das? Lässt sich die Abkehr vom Karfreitag bereits auch für die Zeit davor beobachten? Hier sieht es anders aus: Die Passionszeit wird mehr denn je als eine begrenzte Phase moderner Askese empfunden und gelebt: Sieben Woche ohne. Der zu Recht als sinnvoll und wohltuend empfundene zeitweilige Verzicht ist dabei durchaus spirituell aufgeladen: Mit dem Leiden und Sterben Jesu wird er nicht unbedingt in Verbindung gebracht. Verzicht tut schlicht gut; und er kann zum Nach- und Umdenken anregen.
Doch die Passions-Zeit ist als Leidenszeit nicht ganz vergessen. Es sind in unseren Tagen vor allem die künstlerischen Zeugnisse vorwiegend der Vergangenheit – Gemälde, Altäre, Kruzifixe, die vom Leiden und Sterben Jesu, vom Karfreitag sprechen. Eine besondere Rolle kommt hier der Musik zu: Viele Menschen kommen in die Kirchen, um die großen musikalischen Werke der Passionszeit, voran die Passionen Johann Sebastian Bachs, zu hören. Ihr Inhalt und ihre Musik sprechen und rühren Menschen zutiefst an, unabhängig davon, ob sie sich als religiös empfinden oder der christlichen Deutung des Karfreitags verbunden fühlen.

Musik           J.S. Bach: h-Moll-Messe: Agnus Dei

Karfreitag, das Kreuz Jesus ist umstritten – seit jeher. Umstritten war und ist das Kreuz aus interkultureller und religiöser Perspektive. Bereits die ersten Christen berichten davon. In seinem 1. Brief an die Gemeinde in Korinth schreibt der Apostel Paulus: „Wir predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit.“ Töricht, jenseits aller Vernunft muss den Heiden, der griechischen Mehrheitskultur der antiken Gesellschaft rund um das Mittelmeer, die Botschaft vom Kreuz und des Karfreitags erscheinen:

Weder in die Götterwelt des Olymp noch in das vielgestaltige philosophische Denken der Antike passt der Gedanke an einen gekreuzigten und auferstandenen Gott. Erst recht nicht die Vorstellung, dass gerade von diesem Ereignis Heil für diese Welt und die Menschheit ausgeht.
Soviel anders ist dies auch heutzutage nicht – etwa für Menschen, denen der christliche Glaube fremd geworden ist oder die mit ihm nie in Berührung gekommen sind. In ihrer Perspektive ist Jesus allenfalls ein durchaus ernstzunehmender Sympathieträger, der das gleiche Schicksal erleiden musste wie viele gewaltlose Lehrer und Prediger der Humanität vor und nach ihm: mögen sie nun Sokrates, Gandhi oder Martin Luther King heißen.
Umstritten ist das Kreuz seit jeher auch in interreligiöser Perspektive: Die Botschaft vom Kreuz sei den Juden ein Ärgernis, sagt Paulus, ein Skandalon heißt es im griechischen Original. Als skandalös wird diese Botschaft empfunden, weil der Gott Israels sich in dem einen Menschen Jesus von Nazareth verkörpert haben soll – bis hin zum Kreuz. Dass der Gerechte leidet, auch und gerade für sein Bekenntnis zum Gott Israels, ist durchaus eine vertraute biblische Vorstellung. Doch in einem, in diesem Menschen auch Gott am Kreuz zu sehen: Das stellt alle bis dahin bekannten Vorstellungen von Gott auf den Kopf.

Das Kreuz und die Religionen: Anders als die christliche Überlieferung fällt auch die Perspektive des Koran auf den Tod Jesu, des Propheten Isa, aus. „Sie sagen: 'Wir haben Christus Jesus, den Sohn der Maria und Gesandten Gottes, getötet'. Sie haben ihn nicht getötet und nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen ein anderer ähnlich, so dass sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten.“ Für den Islam ist Jesus ein Gesandter und Prophet Gottes. Am Karfreitag auf Golgatha am Kreuz ist er aber nicht gestorben.
Der Karfreitag, das Kreuz ist umstritten - auch zwischen den Religionen. Diese Unterschiede festzustellen, ist allerdings kein Anlass, den interreligiösen Dialog einzustellen oder ihn nur mit der Hoffnung fortzusetzen, am Ende eine Einigung auf christlicher Grundlage zu erzielen. Ein rechtverstandener Dialog, ob zwischen Religionen, zwischen Staaten, selbst in der Familie bietet die Chance, auch bei unterschiedlicher Auffassung im Einzelnen Respekt für den anders Denkenden oder Glaubenden zu haben und friedlich miteinander zu leben. Das Christentum tut dabei gut daran, sich nicht mit einem triumphalen Beharren auf dem Kreuz aus diesem Dialog zurückzuziehen oder sich über andere Religionen zu erheben.

Gerade mit Blick auf das Judentum ist auf die Blutspur zu verweisen, welche die bereits historisch unzutreffende Kollektivschuld-Zuschreibung „Die Juden haben Jesus getötet“ in zwei Jahrtausenden Christentum und weltlicher Geschichte gezeitigt hat. Sie lebt mittelbar auch heute in neuen Formen des Antisemitismus fort. Karfreitag ist ein Tag der Trauer – nicht zuletzt auch darüber, was Menschen anderen Menschen antun. Der Karfreitag darf deshalb nicht zum Anlass von Hass, der Glaube an das eigene Heil darf nie zum Unheil anderer werden.

Musik           Bach: „Weinen, Klagen,… “

Das Kreuz ist umstritten – nicht nur zwischen den Religionen oder interkulturell. Auch in der christlichen Tradition, bereits in den Evangelien ist der Blick auf das Kreuz vielfältig: Anhand der bildlichen oder plastischen Darstellung des Gekreuzigten durch die Jahrhunderte lässt sich das genauer belegen. In der Zeit der Romanik wird Christus als der leidende König dargestellt; auf seinem Haupt eine Krone. Ruhe geht von dieser Gestalt aus - selbst am Kreuz und im Tod königliche Würde. „Es ist vollbracht“. Das letzte Wort Jesu am Kreuz, so wie es das Johannesevangelium darstellt, ist hier das theologische Bild-Programm. Im Spätmittelalter ist es der Schmerzensmann, der leidende Gottessohn und Gottesknecht, der uns vom Kreuz anblickt: ein geschundener, schmerzgekrümmter Leib, der die Male der Folterung trägt, Blut, Nägel, die Krone aus Dornen. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diese abgründige Frage, als letztes Wort Jesu vom Markus- und Matthäusevangelium überliefert und als Zitat aus dem 22. Psalm übernommen, steht über diesem Bild des Jammers. Auch das Christentum blickt unterschiedlich auf das Kreuz. Sollten dies gegensätzliche Perspektiven sein, die sich ausschließen – oder können sie sich ergänzen?

Ich suche gerne „Kultur-Tempel“ auf, Museen, Theater, Konzertsäle. Einer von ihnen ist die „Alte Oper“ in Frankfurt. Über ihrem Eingang ist in großen Lettern zu lesen: „Dem Wahren, Schönen, Guten“. Eine Referenz an Klassische Bildung, als Zitat an Goethe und Schiller angelehnt. Karfreitag und das Kreuz sind nun gerade das ganze Gegenteil dessen, was hier beschworen wird: Denn nichts ist hier gut, der Leidende gewiss nicht schön, und, wo Gewalt herrscht, stirbt das Wahre und die Wahrheit zuerst.

Karfreitag ist umstritten. Auch unter Christen. Viele Menschen haben wohl mit Karfreitag Schwierigkeiten, weil er an Leid und Gewalt erinnert und den Tod in kräftigen, drastischen Farben malt. Tod und Sterben sind nicht attraktiv, zumindest vordergründig. In der Tiefenstruktur des Menschen sieht es freilich anders aus. Bereits Hermann Hesse diagnostizierte: „Doch heimlich dürsten wir nach Wirklichkeit, nach Zeugung und Geburt, nach Leid und Tod.“ In unseren Tagen wird diese Sehnsucht vor allem medial oder virtuell bedient – durch Krimis als Buch, TV- oder Kinofilm oder am Egoshooter-Computerspiel. Man kann das harmlos nennen, weil es hier nur um Medien geht. Die Psychologen Peter Fischer und Eva Lermer stellen unserer Gesellschaft in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Das Unbehagen im Frieden. Die neue Lust am Leid“ freilich eine andere Diagnose: Warum filmen Menschen Schwerverletzte, anstatt zu helfen? Warum simulieren Millionen Kriegsszenen am Computer? Es gibt offenbar ein uraltes Bedürfnis, dem Leiden und Sterben anderer zuzuschauen – im Kolosseum, vor der Guillotine, im Internet. Die moderne Gesellschaft, so aufgeklärt und überlegen sie sich vorkommen mag, hat die Rohheit nicht überwunden. Sozialpsychologisch besteht ein Zusammenhang zwischen Langeweile, mangelnder Empathie und Destruktivität.
Das Kreuz ist umstritten; für viele ist es das fremde Kreuz. Umstritten ist es auch deshalb, weil das Kreuz an das Gewaltpotential von Religion erinnert – quer durch die Jahrhunderte – bis ins Jahr 2019. Demgegenüber wird heute vor allem das Friedenspotential der Religionen, der christlichen Botschaft betont. Alles, was biblisch an Gewalt erinnert, selbst Worte und Bilder der Gewalt in der Verkündigung Jesu, wird zumindest hintangestellt, bisweilen auch verdrängt.

Musik           Arvo Pärt: Fratres

Tod, Gewalt - und ihr Sinn. Das umstrittene, das fremde Kreuz. Irritierend sind Leiden und Tod Jesu auch deshalb, weil dem Leiden und Tod Jesu ein Sinn zugeschrieben wird – bereits in den Schriften des Neuen Testaments und später in der Theologie und Spiritualität breit entfaltet. „Es ist vollbracht“, nach Johannes das letzte Wort Jesu am Kreuz. Das heißt doch: Jesus ist durch seinen Kreuzestod ans Ziel gekommen, ans Ziel eines göttlichen Auftrags. Diese Deutung des Leidenswegs und Todes leuchtete bereits den Jüngern Jesu nicht ein. Sie waren entsetzt und wollten es nicht wahrhaben. Doch Jesus betonte: Es muss sein. Für den, der es mit Jesu Worten in einem freundlicheren Bild hören will:

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Ein ländliches Bild, von Saat und Ernte, des Werdens und Vergehens. Doch Jesus spricht hier von seinem Tod. Er starb, Gott weckte ihn auf; nur so konnte die Macht des Todes gebrochen werden.  

Es gibt allerdings noch andere Deutungen: Gewalt, Tod und Sinn. Jesus Christus ist für uns, für die Sünde der Welt gestorben. So lautet ein altes, grundlegendes Bekenntnis der Kirche. Vom „Agnus Dei“, dem „Lamm Gottes“ ist die Rede - in jeder Messe, in jedem Abendmahlsgottesdienst. Das Lamm lässt unweigerlich an ein rituelles Opfer denken. Blut fließt auf dem Altar wie am Kreuz. Ein Opfer ist ein alter – religionsübergreifender Ritus. Es soll traditionell die Verbindung zwischen Mensch und Gott wiederherstellen, vor allem dann, wenn sie gestört ist.
Umstrittenes Kreuz: Dem Gedanken an ein Opfer, wird auch mit Blick auf den Karfreitag lebhaft widersprochen. Mit theologischen Gründen – aber auch als Aussage. „Ich will nicht, dass einer für mich stirbt.“ Ich halte diese Aussage für ebenso nachvollziehbar wie ehrenwert, sofern sie nicht mit einer kritiklosen Selbstwahrnehmung einhergeht wie: „Ich bin ganz o.k.; wegen mir hätte niemand sterben müssen.“ War der Tod Jesus sinnlos – in derselben Weise, wie wir an das sinnlose Sterben von Soldaten und Zivilisten in Kriegen denken? Karfreitag als Gedenktag des Sinnlosen? Ich habe Verständnis auch für einen religiös begründeten Protest gegen Gewalt, erst recht für einen Protest gegen ein Verständnis von Religion, die Gewalt religiös legitimiert. Und doch gehört das Kreuz zentral zum christlichen Glauben; es ist nicht von ungefähr zum Zeichen der Christenheit geworden. Das Christentum lässt sich nicht ohne Substanzverlust von Kreuz und Gewalt lösen. Ein solch reduzierter Glauben würde zu einer bloß homöopathischen Wohlfühlreligion verkümmern: Sie würde letztlich den Abgrund nicht erreichen, in den Jesu geblickt und den er und durchlebt hat.
Die Botschaft, die von Karfreitag und vom Kreuz ausgehen, besteht für mich darin: Wenn man vom Opfer am Karfreitag sprechen will, dann nur in dem Sinne: Jesus ist das letzte, endgültige Opfer. Danach soll es keine mehr geben. Wer heute Opfer fordert, widerspricht dem, was am Karfreitag geschehen ist. Wichtig erscheint eine ins positiv gewendete Deutung des Tages, wie sie der Theologe Wilhelm Gräb formuliert hat: Jesus hat die völlige Verbundenheit mit Gott und den Menschen untereinander gelebt. Er hielt daran auch dann fest, als ihn auf der letzten Etappe seines Lebens das Gefühl überkam, jetzt doch von Gott und aller Welt verlassen zu sein.

Jesus macht uns mit Gott als dem bekannt, der mit hineingeht in unsere menschliche Situation, auch noch in unser Sterben und unseren Tod. Er erleidet mit uns die Verzweiflung, sich von Gott verlassen zu fühlen. Doch nicht, um uns darin allein zu lassen, sondern uns mit der Hoffnung auf den Sieg der Liebe über den Tod zu erfüllen. Der Gott, der seit Karfreitag und Ostern der Grund unserer Hoffnung ist, ist der Gott der Liebe und des Lebens. Er ist der Gott, der in den Schwachen mächtig ist und den wir in der Kraft eines unwahrscheinlichen Lebensmutes jetzt schon in uns wirksam fühlen. Dieser Gott lässt uns nicht allein, auch wenn wir sterben müssen. Ein tröstlicher Gedanke, nicht nur am Karfreitag.

Musik                       J. S. Bach: „Jesus bleibet meine Freude“.

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