Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Der Konflikt der Generationen
Gerd Altmann/Pixabay

Der Konflikt der Generationen

Dr. Joachim Schmidt
Ein Beitrag von Dr. Joachim Schmidt, Evangelischer Pfarrer, Darmstadt
Beitrag anhören:

Das Gesetz der Wüste war grausam. Ständig kämpften die wandernden Nomadensippen mit ihren kleinen Herden ums Überleben. Weideplätze und sichere Lagerstätten mit Schatten spendenden Büschen und Bäumen waren knapp, die wenigen Wasserlöcher mussten gegen Eindringlinge verteidigt werden. Der täglich neue Überlebenskampf forderte alle Kräfte.

Alte und Schwache wurden zurückgelassen

Wer zu alt und zu schwach war, wer nicht mehr arbeiten oder kämpfen konnte, wer nur noch eine Last für die Gemeinschaft darstellte, der musste irgendwann allein zurück bleiben, wenn die Sippe weiter zog. Er oder sie musste dann sterben, meist eine leichte Beute für die Raubtiere. So wollte es das harte Gesetz der Wüste seit Menschengedenken.

Musik

Ein neues Gesetz

Vor mehr als 3000 Jahren setzte eine kleine Gruppe von Nomadenvölkern in der Sinai-Wüste in diesem uralten, gnadenlosen Gesetz ein anderes Gesetz entgegen. Sie hatten es als das Gebot Gottes verstanden: "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, damit du lange auf Erden leben kannst."

Das vierte Gebot

Es ist das vierte Gebot aus den berühmten zehn Geboten, die die meisten Menschen wahrscheinlich vom Hörensagen kennen, aber viele auch im Konfirmations- oder Kommunionsunterricht kennengelernt haben, vielleicht sogar auswendig lernen mussten. Der zweite Teil dieses Gebotes hat einem vermutlich nie richtig eingeleuchtet, denn der historische Hintergrund wurde selten mitgeliefert: Nur wenn die junge Generation bereit ist, ihren Alten ein menschenwürdiges Leben im Alter zuzugestehen, wird sie eines Tages selber hoffen können, in Würde alt zu werden.

"Pillen-Knick" und "Baby-Boomer"

Viel hat sich seitdem bei uns im Verhältnis der Generationen zueinander verändert. Früher gab es nur wenige Alte, aber viele Junge. Heute ist das umgekehrt. Seit den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts sind in Deutschland wie in allen Industrieländern die bis dahin sehr hohen Geburtenzahlen aus den Nachkriegsjahren eingebrochen. Es war der berühmte "Pillen-Knick".

Schon lange werden seitdem die vielen davor Geborenen von den Jüngeren spöttisch "Baby-Boomer" genannt. Die vielen Baby-Boomer gehen in diesen Jahren in Rente, und dank großer medizinischer Fortschritte steigt ihre Lebenserwartung von Jahr zu Jahr, daran wird auch auch die gegenwärtige Corona-Krise hoffentlich nichts ändern, wenn diese Gesellschaft sich weiter rücksichtsvoll verhält.

Mehr Alte, weniger Junge - Wie funktioniert da der Generationenvertrag?

Wie die normale Altersversorgung dieser Generationen in zehn, zwanzig Jahren gestemmt werden soll, weiß heute seriös niemand zu sagen. Schon lange ist jedenfalls klar, dass die staatliche Rentenversicherung das nicht wird leisten können. Sie beruht auf einem Generationenvertrag mit vielen Jungen und wenigen Alten. Heute ist es eben umgekehrt. Viel ist von Eigen-Vorsorge für das Alter die Rede.

Wer nicht genug bringt, bleibt im Alter zurück

Ich frage mich, ob das alte, gnadenlose Gesetz der Wüste da nicht noch immer weite Teile unseres unbewussten Denkens bestimmt, und wie wir gesellschaftlich handeln.  Es gibt starke Kräfte, die diesen Trend vorantreiben: Jeder hat vor allem für sich selbst zu sorgen. Dazu muss man stark und leistungsfähig sein. Wer ökonomisch nicht genug bringt, dem droht das gesellschaftliche Abseits. Wer also bleibt zurück, wenn die Karawane des Wohlstands weiter zieht? Längst nicht alle können so viel zurück legen, dass es eines Tages für ein würdiges Leben reichen wird.

Was heißt "Vater und Mutter ehren" heute?

Könnte es also vielleicht wieder so weit kommen wie in der grauen Nomaden-Vorzeit in der Wüste? Dass den Jungen die Last der Versorgung der Alten zu schwer wird und sie sich weigern, sie zu tragen? Was bedeutet das uralte Gottes-Gebot der Juden und der Christen, Vater und Mutter zu ehren, für das Verhältnis der Generationen heute?

Musik

Aus Nomaden wurden Bauern

Irgendwann gaben die umherziehenden Sippen ihr Nomadendasein auf. Sie wurden sesshaft, nahmen Land in Besitz, bauten feste Wohnungen, begannen, den Boden zu bearbeiten, zu säen und zu ernten und betrieben Viehzucht. Manche Wissenschaftler glauben, dass dies die Zeit war, als sich auch die Rolle der Alten änderte. Die Regeln der Wüste galten nicht mehr.

Die Alten wurden nun gebraucht

Die Alten wurden gebraucht. Sie waren es, die das Land und tiefe Lebenserfahrungen und Kenntnisse besaßen. Dazu gehörten ihr Wissensvorsprung über Gesundheit und Krankheit, Saat und Ernte. Und nicht zuletzt ihr seit vielen Generationen überlieferter Glaube an den Gott ihrer eigenen Väter und Mütter. Alldas war für die Gemeinschaft kostbar.

In der jüdischen Tradition wird die Ehrerbietung für die Alten deshalb unmittelbar mit Gott in Verbindung gebracht: "Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren; denn du sollst dich fürchten vor deinem Gott, denn ich bin der HERR", heißt es in einer Sammlung religiöser Vorschriften im Dritten Buch Mose.

Den Glauben weitergeben

Diesen Glauben, die alten Gebete und Gottesdienste, Gesänge und Bräuche, die überlieferten Geschichten vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, all das gaben die Alten an die Jungen weiter. Dazu gehörte auch der Glaube, dass Gott selbst ein Vater sei, der Vater seines erwählten Volkes. Und am Ende ihres Lebens gaben die Alten den Nachkommen ihren Segen. So war es Brauch.

Die Alten hatten das Sagen

Aber natürlich gab es schon damals Generationenkonflikte, auch wenn sie wohl nur selten offen ausgetragen wurden. Dass junge Menschen von Natur aus anders ticken als Alte, wurde ihnen in früheren Zeiten ungern zugestanden. Die Alten hatten das Sagen, notfalls auch mit der Rute. "Wer seinen Sohn liebt, der züchtigt ihn", heißt es in der Übersetzung Martin Luthers in den so genannten Sprüchen Salomos (Sprüche 13,24).

Jugendliche gehen heute ihren eigenen Weg

Prügel-Pädagogen vieler Generationen haben sich gerne darauf berufen. Erst in den letzten hundertfünfzig Jahren setzte sich die Auffassung durch, dass Jugendliche ein Recht haben, ihren eigenen Weg zu gehen, zumindest in unserer Kultur. Und leider muss man auch sagen: Bei manchen Älteren ist diese Erkenntnis bis heute nicht angekommen.

Lebenserfahrung gegen Abenteuerlust

Denn Jugendliche schauen nun einmal anders auf das Leben als Erwachsene und Alte. Sie, die Jungen, haben das Leben noch vor sich, die Alten den größten Teil davon schon hinter sich. Andererseits: Alle heute Alten waren schon einmal jung, auch wenn sie Vieles aus ihrer Jugend vergessen haben mögen, aber kein junger Mensch kann sich vorstellen, welche Lebenserfahrungen noch vor ihm liegen.

Der Generationenkonflikt ist vorprogrammiert

Da sind Konflikte zwischen Jung und Alt seit jeher vorprogrammiert. Lehrerinnen und Lehrer, aber auch alle, die einmal eigene Kinder in der Pubertät hatten, können davon Lieder singen. Dem alten Theodor Fontane wird der schöne Satz zugeschrieben: "Wer mit 19 kein Revolutionär ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch ein Revolutionär ist, hat keinen Verstand."

Musik

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Lebensverhältnisse sehr verändert

Wie steht es heute mit dem Verhältnis der Generationen zueinander? Noch nie in der Menschheitsgeschichte haben sich die Lebensverhältnisse durch technischen Fortschritt in so kurzer Zeit so dramatisch verändert wie in den letzten Jahrzehnten. Noch nie sind junge Menschen mit dem Internet so rasch und so radikal in eine neue Welt hinein gewachsen, der die meisten Älteren erst einmal rat- und hilflos gegenüberstanden, und in der sie sich mühsam zurechtfinden mussten – wenn es ihnen denn überhaupt gelingt.

Neue Kommunikationsformen sind eine Herausforderung für die Alten

Früher waren es die Alten, die durch ihre Lebenserfahrung einen großen Wissensvorsprung hatten. Heute fühlen sich alle abgehängt, die nicht rechtzeitig in den letzten dreißig Jahren den Anschluss an die neuen Kommunikationsformen gefunden haben.

"OK, Boomer!"

Manche Jungen kultivieren auch einen abschätzigen Blick auf die vielen Baby-Boomer, die in diesen Jahren in Rente gehen. Von Amerika ausgehend, hat es im vergangenen Jahr ein Schlagwort in den so genannten Sozialen Medien des Internets zum geflügelten Wort gebracht: "OK, Boomer!" In YouTube-Videos antworteten Teenager damit lässig und abschätzig auf herablassende Tweets von Donald Trump und die, die sich über die angeblich träge und selbstzufriedene junge Generation mokierten. Die schlug mit Verachtung zurück.

Sprachlosigkeit zwischen den Generationen

Dabei ging es nicht um Recht oder Unrecht, sondern um eine große Sprachlosigkeit, zwischen den Generationen. Was war da passiert? OK Boomer? Nein, nichts scheint da okay zwischen den Boomern und den Jungen, und oft auch nicht mit den Kindern der Boomer.

"Milennials" -  die Kinder der Boomer

Sie nennt die Sozialforschung heute die „Milennials“, geboren nach 1980. Zur Zeit sind sie die Leistungsträger-Generation der Gesellschaft, in den besten Jahren, aber zahlenmäßig viel weniger als die „Boomer“. In die virtuelle neue Welt des Internets haben sich die meisten schon aus beruflichen Gründen hinein finden müssen, wurden gewissermaßen digital nachsozialisiert, und viele haben Gefallen daran gefunden.

"Generation Z" - die Enkel der Boomer

Und dann gibt es da noch die Enkel der „Boomer“, seit der Jahrhundertwende geboren und heute in der Sozialwissenschaft gerne die "Generation Z" genannt. Sie sind von klein auf mit den digitalen Technologien aufgewachsen, bewegen sich in dieser Welt mit intuitiver Sicherheit und verbringen zumeist viele Stunden täglich vor dem Bildschirm oder mit dem Smartphone.

Sprechen Alt und Jung heute noch die gleiche Sprache?

Die Berührungsängste ihrer Großeltern und vielleicht auch noch ihrer Eltern kennen sie nicht, im Gegenteil: All das ist elementarer Teil ihrer Lebenswelt. Ein Leben ohne TikTok und Twitter, Snapchat, Youtube, Facebook oder WhatsApp ist ihnen unvorstellbar, denn sie organisieren praktisch ihr ganzes Leben. Wenn aber die Lebenswelten so weit von einander entfernt sind, ist doch auch die Frage: Sprechen Alte und Junge heute überhaupt noch die gleiche Sprache?

Der erste Generationenvertrag der Geschichte

„Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, damit du lange auf Erden leben kannst.“ Der uralte Text vom Sinai ist wohl der erste Generationenvertrag in der Geschichte der Menschheit. Wie alle zehn Gebote stellt er eine Verheißung für ein menschenwürdiges Leben dar, wenn Menschen sich dem menschenfreundlichen Geist Gottes anvertrauen. Als das Volk Israel vor Jahrtausenden dieses Gebot für sich annahm, da war die gemeinsame Sprache zwischen den Generationen noch kein Problem.

Gibt es einen neuen Anfang?

Heute sind Zweifel angebracht. Wie steht es mit der Verständigung zwischen den Generationen? Vieles Überkommene und Vertraute scheint nicht mehr zu gelten. Die Karten werden neu gemischt. Und ich glaube, es gibt auch Hoffnung. Vielleicht stehen wir vor einem neuen Anfang. 

Musik

Was bedeutet das vierte Gebot heute?

Das vierte Gebot: "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, damit du lange auf Erden leben kannst." Was bedeutet es heute für uns?

Corona - Der große Einschnitt

Diese Wochen der großen weltweiten Corona-Pandemie werden uns allen wohl lebenslang im Gedächtnis bleiben. Wie da die Besorgnis erregenden Nachrichten von einem neuen, hoch ansteckenden Virus aus dem fernen China immer näher rückten, die Zahlen der Infizierten und der Toten steil in die Höhe gingen und sich dann im Tagesrhythmus vervielfachten. Wie die begrenzten Möglichkeiten der Gesundheitssystem angesichts dieser Pandemie immer offenkundiger wurden, Pflegepersonal und Ärzte bis zur Erschöpfung arbeiten, Wirtschaft und Verkehr zum Erliegen kommen und die deutsche Politik erst zögerlich und dann immer entschlossener Maßnahmen ergriff, um die Verbreitung des Corona-Virus einzudämmen.

Risikogruppe Alte

Enkel dürfen ihre Großeltern nicht mehr besuchen, Altenheime sind auch für Angehörige gesperrt. Und aus Italien kamen die ersten Berichte, dass schwer am Corona-Virus erkrankte über 80-Jährige im Zweifelsfall nicht mehr beatmet würden.

Die Ignoranz der Jugend

Zu Beginn sah man immer wieder Fernseh-Bilder und Berichte, dass sich etliche Jugendliche um die eindringlichen Warnungen vor Virus-Ansteckung durch enge Kontakte nicht scherten und sogar trotzig öffentlich Corona-Parties feierten. Wieviel sie damit zur raschen Verbreitung des Virus beitrugen, wird sich nie klären lassen. Klar aber war eine große dumme Gleichgültigkeit unter den Motto: Lasst doch die Alten ruhig eine Corona-Risikogruppe sein und sterben, uns wird schon nichts passieren. Erst Polizeikontrollen und drakonische Strafen machten dem ignoranten Treiben ein Ende.

Eine Welle der Hilfsbereitschaft rollt an, auch unter jungen Leuten

Aber dann kam eben sehr rasch auch das andere: Eine unglaubliche Welle der Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft quer durch die Bevölkerung, gerade auch unter jungen Leuten. Da geht es dann gar nicht nur um die eigenen Eltern oder Großeltern. Nein, da gibt es angesichts der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen ungezählte Nachbarschaftsinitiativen, die Alten und Einsamen ihre Hilfe anbieten für Einkäufe und Besorgungen, für tröstende Gespräche per Telefon oder auch über Skype. Junge und Alte, die sich ohne die Corona-Krise nie begegnet wären, finden zueinander. Kaum einen Satz habe ich in den vergangenen Wochen so oft gehört wie den: „Nach dieser Krise wird nichts mehr so sein, wie es war.“

Die Krise wird Spuren in der Gesellschaft hinterlassen

Vielleicht ist das ja eine Nummer zu groß, und doch scheint mir eines sicher: Der weltweite Einschnitt dieser Krise in unser Zusammenleben wird deutliche Spuren in unserem Denken und Handeln und auch in unserem Lebensgefühl hinterlassen. Für die Nachdenklichen bei Jung und Alt ist das auch eine Chance, sich darauf zu besinnen, dass sie vor Gott nichts anderes als gemeinsam Menschen sind.   

Musik

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren