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Angefochten - Luthers Tintenfleck
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Angefochten - Luthers Tintenfleck

Dr. Joachim Schmidt
Ein Beitrag von Dr. Joachim Schmidt, Evangelischer Pfarrer, Darmstadt

In jedem Leben gibt es die hellen Tage. Zum Glück. Da ist man voll fröhlicher Hoffnung und Zuversicht, fühlt sich stark und lebendig und frei, und manchmal, besonders, wenn man jung ist, möchte man Bäume ausreißen. Aber früher oder später kennt jeder auch die anderen, die dunklen Tage, und sie kommen nicht erst, wenn man alt wird. Da scheint alles sinnlos, da schleichen sich nagende Zweifel ins Herz, legen sich dunkle Schatten übers Gemüt und wollen nicht weichen. Da fühlt man sich klein und überflüssig, Versäumnisse der Vergangenheit werden übergroß, die guten Erfahrungen verschwinden, und die Lebens-Hoffnung, die einen gestern beflügelt hat, erscheint nur noch wie eine lächerliche Illusion.

Die Alten hatten ein treffendes Wort für diese Erfahrung, das aus unserer Sprache leider so gut wie verschwunden ist. Sehr zu Unrecht, wie ich finde. Denn auch heute noch spielen sich im Inneren jedes Menschen immer wieder erbitterte Kämpfe ab, Gefechte zwischen Hoffnung und Verzweiflung, man könnte auch sagen: Zwischen der hellen und der dunklen Seite des Lebens. Das alte, so treffende Wort dafür heißt Anfechtung. Der Ausgang solcher Gefechte kann ein ganzes Leben entscheiden.

Ich lade Sie ein, heute Morgen für eine knappe halbe Stunde mit mir auf eine Reise 500 Jahre zurück in die Geschichte des christlichen Glaubens zu gehen. Mit unserer Phantasie besuchen wir einen Mann, der solche Anfechtungen bis in die Tiefe seiner Seele immer wieder und sein ganzes Leben lang erlitten und bestanden hat. Er war selbst noch geprägt von den dunklen Ängsten und dem Aberglauben des Mittelalters. Aber unter großen Anfechtungen entwickelte er die Grundzüge eines neuen Denkens im Kampf gegen Angst und Hoffnungslosigkeit. Seine mutige Theologie wurde im Lauf der Zeit zu einer Befreiung für ungezählte Menschen und später zu einer Begründerin der modernen Welt.

Mitte Dezember im Jahre des Herrn 1521 waren die Nächte auf den Höhen des Thüringer Waldes endlos, und sie waren eisig kalt. Die Mauern der uralten Burg der Heiligen Elisabeth hoch über Eisenach hatten im verregneten Sommer kaum wärmende Sonnenstrahlen gesehen, jetzt lagen sie ganz in Winterstarre. Die wenigen Kamine im Inneren der Burg brannten Tag und Nacht. Ihre Holzstapel wurden jeden Morgen von Knechten aufgefüllt. Und doch gelang es dem Feuer nicht, der Kälte Einhalt zu gebieten, die von Wänden und Fußboden her längst in alle Räume gekrochen war.

Junker Jörg, ein nicht mehr ganz junger, vollbärtiger Mann mit wehendem Haupthaar, war am frühen Morgen noch in der Dunkelheit aufgestanden, hatte an der letzten Glut des Kaminfeuers den Docht einer Rapsöllampe entzündet und sich an den Tisch gesetzt. Er stützte den Kopf in die Hände und wickelte sich fester in einen wollenen Umhang. Er war hungrig und todmüde, und er fror. Vor ihm lagen ein Foliant in griechischer Sprache und ein angefangenes Manuskript. Er hatte begonnen, das Neue Testament ins Deutsche zu übersetzen.

Luther: Also noch einmal: … peirasthänai hypó toú diabólou … Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von … diábolos … versucht würde. Diábolos. Hmm! Diábolos. Wird immer mit „Teufel“ übersetzt. Aber ein interessantes Wort, eigentlich. Dia, durch, bolein, werfen … Das ist doch der … Durcheinander-Werfer. Ja! Ein Unruhestifter, ein Verwirrer, ein Zerstörer der heiligen Ordnung Gottes.

Der Dunkle: Also einer wie du?

Luther: Unfug! Was soll das?

Der Dunkle: Man wird doch freundlich fragen dürfen.

Luther: Wer bist du? Ich sehe dich nicht.

Der Dunkle: Der Diábolos und du, ihr seid Gefährten im Geiste, Dr. Martinus Luther, Professor der Heiligen Theologie zu Wittenberg. Der Papst sagt, du hast gegen die göttliche Ordnung verstoßen.

Luther: Was schert mich der Papst!

Der Dunkle: Und der Kaiser hat es feierlich bestätigt. Deshalb sitzt du jetzt hier und bist vogelfrei. Wenn dich die Kaiserlichen finden, dann wirst du ruck zuck am nächsten Baum aufgehängt!

Luther: Lass mich in Ruhe! Wer bist du?

Der Dunkle: Sagen wir: Ein sehr guter Freund. Ein Teil von dir. Du siehst mich nicht, denn ich bin überall.

Luther: Du versteckst dich hier irgendwo. (ein Stuhl poltert um) Warte, ich finde dich!

Der Dunkle: Das wird nicht gehen. Ich bin in dir.

Luther: Du bist nicht in mir. Ich sehe dich! Da in der Ecke, der Schatten … Du, du, du bist es, der Diábolos, der die Welt durcheinanderbringt. Du bist der …

(Szene bricht abrupt ab. Kurze Stille.)

Zur Zeit Martin Luthers zweifelte niemand daran, dass der Teufel allgegenwärtig war. Als Inbegriff des Bösen in der Welt, so sagte man, führe er die Menschen ständig und mit größter Hinterlist in Versuchung, gegen die Gebote Gottes zu verstoßen. Und so, wie man sich Gott, den Vater und Gott den Sohn irgendwie als Personen wie Menschen vorstellte, so war es eben auch mit dem Teufel.

Zwar konnte er, so hieß es, unterschiedliche Gestalten annehmen, wenn es seinen Zwecken nützte, aber im Grunde galt er doch als menschenähnliche, große, unendlich mächtige, widergöttliche Kraft: der Vater aller Lügen, der Fürst der Finsternis. Und wenn die großen Anfechtungen kamen, die Zweifel und die Verzagtheit, wenn es dunkel wurde, nicht nur am Abend, sondern auch im Leben der Menschen und in den Herzen und Köpfen, wenn das Elend zunahm, der Lebensmut sank und alle Hoffnung verloren ging, dann war das nach allgemeiner Ansicht eben ein Werk des Teufels.

Es wurde gar nicht richtig hell über dem Thüringer Wald an jenem Morgen im Dezember des Jahres 1521. Martin Luther lebte auf der Wartburg in einer kleinen Stube über dem ersten Burghof. Man hatte von dort einen weiten Blick hinunter ins Tal und über den Thüringer Wald. Später sprach Luther davon, er sei „im Reich der Vögel“ gewesen.

Seit einem dreiviertel Jahr saß der Professor der Theologie zu Wittenberg hier fest, im Auftrag seines Landesherrn Friedrich versteckt vor aller Welt und dem Burggesinde nur bekannt als der etwas eigenartige „Junker Jörg“. Ein merkwürdig gelehrter Junker, der sich die Zeit nicht mit Jagen, Saufen und Würfelspielen vertrieb, sondern der lesen und schreiben konnte und nur selten seine Kammer verließ. Ständig verlangte er nach neuen Federn, Tinte und Papier.

Luther: Ei hyós ei tou theóu, eipé hina …
Wenn du Gottes Sohn bist, (denkt nach) … dann sprich, dass diese Steine Brot werden …


Der Dunkle: Jaja, Steine zu Brot. Ein schönes Bild. Kein Hunger mehr, für niemanden auf der Welt! Was für eine wunderbare Vision! Hat ja aber leider, leider nicht geklappt.

Luther: Halts Maul!

Der Dunkle: Habe ich unrecht? Hunger ist schlimm. Du weiß das doch. Ich habe deinen Magen schon knurren hören. Oder war er ja vielleicht gar nicht allmächtig, dein Herr Jesus und konnte es nicht zugeben?

Luther: Du lügst! Und hier, hier steht die Wahrheit. Ich übersetze sie dir: … Jesus sprach: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes geht.

Der Dunkle: Fabelhaft! Das gefällt mir. Worte statt Brot. (lacht ein wenig) Das nenne ich doch mal rechte Theologie. Wort Gottes: Reden statt handeln.

Luther: Hau ab!

Der Dunkle: Nicht doch! Ich will dir nur helfen. Mach‘ einmal das Fenster auf und schau hinaus. Was siehst du?

Luther: Das Fenster bleibt zu! Es ist kalt. Da unten sind der Entengraben und das Rimbachtal

Der Dunkle: Und wie weit unten?

Luther: Hundert Klafter vielleicht oder mehr. Was weiß ich?

Der Dunkle: Und worauf wartest du? Du verschwendest kostbare Zeit hier in diesem Krähennest. Hier hast du nichts mehr verloren. Spring! Flieg fort wie die Vögel. Du kannst das. Es wird dir nichts geschehen.

Luther: Lügner! Verschwinde endlich!

Der Dunkle: Aber, aber! Wie heißt es doch so richtig in der Schrift? Hier, lies! Da, in der übernächsten Zeile! Was steht da?

Luther: Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.

Der Dunkle: Also?

Luther: Ja, das hättest du gerne, du Schwindler! So wie damals in der Wüste beim Herrn Jesus. Und was hat Jesus darauf gesagt? Hier: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen«.

Der Dunkle: Verstehe. Nur konsequent. Natürlich kein Brot aus Steinen, und auf gar, gar, gar keinen Fall Schutzengel. Und dafür riskierst du Kopf und Kragen?

Luther: Scher dich weg! Ich werd‘s dir zeigen! Da, nimm das …

(Scherben klirren. Szene bricht abrupt ab. Kurze Stille.)

Nein, es war wohl doch nicht das berühmte Tintenfass. Bis heute zeigt man auf der Wartburg in der so genannten Lutherstube einen Tintenfleck und erzählt wie seit Jahrhunderte den Besuchern, dieser Fleck sei entstanden, als der Reformator mit seinem Tintenfass nach dem Teufel geworfen habe. Eine schöne, fromme Geschichte, die man liebevoll pflegte und den Tintenfleck alle paar Jahrzehnte wieder neu auf die Wand malte.

Aber das war wohl eher ein Missverständnis. Oft hat Martin Luther gesagt, er habe auf der Wartburg den Teufel mit Feder und Tinte bekämpft, und er meinte damit seine Schriften und seine Übersetzung des Neuen Testaments. Doch dass der Mann sich in der Zeit des Versteckens immer wieder auch in einem verzweifelten Kampf mit dem Teufel der Niedergeschlagenheit und der Hoffnungslosigkeit befand, das ist sicher.

Martin Luther lebte auf der Wartburg genauso rücksichtslos gegen sich selbst wie seit Jahren, vergrub sich leidenschaftlich in die Arbeit, oft bis zur völligen Erschöpfung. Wieder und wieder rebellierte sein Körper dagegen mit Krankheits-Symptomen. Schlechte Verdauung, Verstopfung, quälende Blähungen und rasende Kopfschmerzen, aber auch heftige Ängste und Depressionen.

Heute verstehen wir die engen Zusammenhänge zwischen Körper und Geist. Aber der in seinem Denken noch ganz mittelalterliche Mensch Luther durchlebte eine endlose Kette quälender, teuflischer Anfechtungen. „Baptizatus sum – ich bin getauft“ hielt er sich beschwörend vor, wenn die Schmerzen zu groß wurden. „Ich bin getauft und gehöre zu Christus! Der Teufel hat keine Macht mehr über mich.“ Das gab seiner Seele Atempausen. Aber die Anfechtungen kamen wieder.

Luther: Palin paralambánei autón ho diábolos eis óros hypsälón lían, … Dann entführte ihn der Satan mit sich auf einen sehr hohen Berg … und zeigte ihm alle Reiche der Welt … kai tän doxan autōn … und ihren Ruhm … hä doxä, das ist doch der Ruhm …Das passt nicht.

Der Dunkle: Darf ich helfen? Verzeih, aber das griechische Doxä, das ist doch viel mehr als Ruhm. Der Glanz eines Herrschers. Es ist seine … Herrlichkeit. Findest du nicht?

Luther: Ja, das ist gut, das ist sehr gut! … Zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit…

Der Dunkle: Du hast sie gesehen, diese Herrlichkeit in Worms. Du warst ganz oben, warst ihnen ganz nahe. Dem Kaiser auf seinem Thron, den Kurfürsten in ihren Hermelinmänteln, dem Purpur der Kardinäle. Siehst du: Das ist Herrlichkeit! Das ist Macht. Wenig hätte gefehlt, und du hättest einer von ihnen sein können …

Luther: Sie wussten nichts von der Heiligen Schrift. Sie waren dumm und taub!

Der Dunkle: Was tut das? Jetzt haben sie über dich die Reichsacht verhängt. Es gibt dich schon gar nicht mehr. Du bist ein Nichts, ein Niemand, und morgen bist du tot, wenn hier nur einer den Mund aufmacht. Wirklich ein Jammer!

Luther: Oh ja, das steht schon in der Heiligen Schrift, wie du den Frommen in Versuchung führst! Hier: … „und Satan sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“

Der Dunkle: Naja, muss ja nicht ganz so theatralisch sein. Aber ich könnte dir helfen. Sagen wir so: Deine Lage ist hoffnungslos. Die Spione des Kaisers sind überall. Sie haben längst deine Spur aufgenommen. Auch hier auf der Wartburg haben die Wände Ohren. Du bist in größter Gefahr. Lass diese toten Papiere, flieh irgendwohin, solange noch Zeit ist!

Luther: Kannst du lesen, du Diabolos, ja? Hier, hier genau hier steht es im vierten Kapitel des heiligen Matthäus: „Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“ Und ich sag dir, was ich jetzt tun werde! Warte, bis ich den Hosenbund auf habe … da, mein blanker Hintern, bleib hier, du wirst dich wundern, wie es gleich donnert. Ich furze gegen dich an, du Höllenfürst …

(Szene bricht abrupt ab. Kurze Stille.)

Tatsächlich hat Luther später freimütig erzählt, er habe den Teufel öfter mit donnernden Fürzen vertrieben. Heute muss man das wohl nüchterner sehen. Luthers ständige Blähungen waren sehr schmerzhaft und konnten ihn zur Verzweiflung treiben. Wenn dann die Gase endlich herauskamen, erlebte er das als Sieg, als große Befreiung, ganz so, als ob ein böser Geist von ihm abgelassen habe.

Aber die Erleichterung war immer nur von kurzer Dauer. Körperliches Unwohlsein fördert das Grübeln, und Zweifel sind der stärkste Feind der Hoffnung. Sein Leben lang hat Martin Luther diesen Kampf gekämpft.

Simul iustus et peccator – heilig und Sünder zugleich. Auf diese einprägsame Formel hat Luther schon Jahre vor den Erfahrungen auf der Wartburg seine neue Theologie und zugleich seine eigene Lebenserfahrung gebracht. Vielleicht hat er auf der Wartburg diesen unauflöslichen Zusammenhang besonders prägend erlebt. Gottes Gnade wird dem Menschen immer wieder geschenkt, aber nichts ist damit in der Wirklichkeit des Lebens tatsächlich ausgestanden. Die Wechsel zwischen Dunkelheit und Licht, Anfechtung und Überwindung, Hoffnung und Verzweiflung bleiben ein Leben lang. Simul iustus et peccator.

Am 1. März 1522 vollendete Martin Luther seine Übersetzung des Neuen Testaments. Er packte seine Sachen und kehrte nach Wittenberg zurück. Mit Freunden prüfte er noch einmal jedes Wort des von ihm unter tausend Anfechtungen geschaffenen „Neuen Testaments Deutsch“. Im September 1522 erschien das Werk im Druck und erlebte in kurzer Zeit viele Auflagen. Der Kampf um die Hoffnung hatte gerade erst begonnen. Die Wartburg hat Martin Luther nie wiedergesehen.

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