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Zum Beten gehören immer zwei
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Zum Beten gehören immer zwei

Stefan Claaß
Ein Beitrag von Stefan Claaß, Evangelischer Pfarrer und Professor, Theologisches Seminar Herborn

„Verschone uns mit Feuer, Missernten und Heuschreckenschwärmen“, beteten die Farmer am Sonntagmorgen. „Schlage den Feind mit Blindheit, auf dass wir in Ruhe seine Felder abnagen können“, beteten die Heuschrecken zur selben Zeit.
Zwei Gebete, die sich widersprechen. Gott kann nicht beide erhören. Darum hat der Dichter Wolfdietrich Schnurre dieser Szene den Titel gegeben: „Die schwierige Lage Gottes“. Vielleicht denken Sie jetzt an die Probleme, die entstehen, wenn alle Bitten in Erfüllung gingen. Vielleicht denken Sie an verfeindete Mächte, die im Krieg bei demselben Gott jeweils um den eigenen Sieg gebetet haben. Wenn ich über die schwierige Lage Gottes nachdenke, wandern meine Gedanken ins Krankenhaus. Was kann ich mit einem Freund beten, der verzweifelt auf eine Spenderleber wartet? Dass Gott jemandem in dieser Nacht einen Motorradunfall schenken soll? Sicher nicht. Manchmal tut mir Gott leid, mit so vielen Hoffnungen und Wünschen konfrontiert zu werden.
Aber er ist nicht der einzige, der in einer schwierigen Lage ist.
Als junger Vikar war ich mit einem befreundeten Ehepaar in der Klinik. Bei dem Mann war ein Tumor im Kopf entdeckt worden. Es war noch nicht klar, ob er bösartig war. Seine Frau bat mich, darum zu beten, dass der Tumor gutartig sei. Und ich stand da und kam ins Grübeln. Insgeheim dachte ich: Es steht doch schon fest, ob der Tumor gut- oder bösartig ist. Wir wissen es nur noch nicht. Kann ich da sinnvoll beten für ein bestimmtes Ergebnis? Glaube ich ernsthaft, dass Gott das Ergebnis auf mein Gebet hin noch kurzfristig ändert? Ich habe dann gebetet für den Freund, um Gottes Hilfe und für die Ärztinnen und Ärzte. Nach meinem „Amen“ ergänzte der Mann: „Und bitte lass den Tumor gutartig sein.“ Die Geschichte kommt mir immer wieder in den Sinn. Manchmal bringt der Wunsch nach bestimmten Ergebnissen nicht nur Gott in eine schwierige Lage, sondern auch Freunde, die solidarisch sein möchten.
2012 gab es eine große Umfrage unter dem Titel: „Was glauben die Hessen?“ Eine breite Mehrheit war der Überzeugung, dass Beten etwas bewirkt. Aber was es bewirkt, darüber gehen die Meinungen auseinander.
Vor einigen Jahren habe ich mich in meiner Gemeinde mit einem Menschen darüber gestritten, worum wir beten können. Ich war der Ansicht, es solle um gravierende wichtige Dinge gehen. Der andere sagte, er bete für alles, zum Beispiel auch für einen freien Parkplatz in der Stadt. Ein paar Tage später wollte ich in die Uni-Klinik, einen Besuch machen. Wie üblich: alles zugeparkt. Wenn ich jetzt Herr Sowieso wäre, dachte ich, würde ich um einen Parkplatz bitten. Da fuhr vor meiner Nase ein Auto weg und machte Platz. Hatte der andere Recht? Oder wollte Gott mir zeigen, dass er Humor hat? Oder war das einfach nur ein witziger Zufall?

Musik

In Gottes Haut möchte ich nicht stecken, wenn es darum geht, Bitten zu erfüllen, die sich widersprechen. Ist es das, was ein Gebet ausmacht: das Ergebnis? Damit wir uns freuen können, wenn es so kommt wie erhofft und uns bestätigt fühlen: Gott hat mich erhört?
Für viele Menschen liegt die grundlegend schwierige Frage schon vorher auf der Hand: Ist da überhaupt jemand, zu dem ich beten kann? Bin ich wirklich im Kontakt und im Gespräch mit Gott? Oder ist das alles ein frommes Selbstgespräch?
Die Antwort ist einfach. Ich bin sicher, dass Gott als Gegenüber da ist, hört und Rückmeldungen schickt auf unterschiedlichste Weisen. Ich bin überzeugt davon, dass Beten eine der besten Kommunikationsformen im Leben ist. Aber das ist Erfahrung und Überzeugung, kein Beweis.
Der Apostel Paulus hat Beten in der Bibel so beschrieben: Gottes Geist selber ist beim Beten in uns. Beten verbindet mit Gott. Ich sag das mal so: Diese Geistkraft stellt uns online mit Gott.
Dass Gott viel von Kommunikation hält, davon erzählt die Bibel in allen Teilen. Jesus ist andauernd in Gesprächen mit den unterschiedlichsten Menschen: mit Außenseitern und Intellektuellen, Elenden und Reichen, Suchenden und Überzeugten. Und Jesus ist andauernd in Verbindung mit Gott.
Jesus spricht eigene Gebete wie das Vaterunser. Jesus spricht aber auch Gebete, die es schon vor ihm gab im Alten Testament. Genau in der Mitte der Bibel finden wir das Buch der Psalmen. Gebete aus der Zeit des alten Israel, die sehr ehrlich und offen alle Lebenslagen vor Gott bringen.
Ich glaube, das ist der Anfang allen Betens: das Gespür, dass Gott mich sieht und sich für mich interessiert. „Gott, hilf mir, das Wasser steht mir bis zum Hals!“, heißt es in Psalm 69. „Warum hast du mich verlassen?“, klagt einer in Psalm 22. Oder auch, in besseren Zeiten: „Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin.“
Beten heißt hier: Ich kann mich aussprechen, ich kann ohne jede Ausrede oder Verbiegung sagen, wie es mir geht. Aus dem Vertrauen heraus, dass Gott hört.
Es ist wie bei einer guten Freundschaft: Dass der andere mir zuhört und mich versteht, ist mir erst einmal wichtiger als dass er meine Wünsche erfüllt.

Musik

Beten bewirkt etwas. Aber was? Früher sind der Bauer und seine Familie nachts bei Gewitter aufgestanden und haben zu Gott gebetet: „Verschon unser Haus!“ Dann erfand Benjamin Franklin den Blitzableiter und das Gebet um Schutz fiel aus, alle blieben liegen. Beten bewirkt etwas. Das Problem in diesem Satz liegt für mich in dem Wörtchen „etwas“. Das lenkt unsere Blicke immer auf ein mögliches Ergebnis. Und dieses Schielen kann mein Beten vergiften. Je allgemeiner solche Ergebnisse formuliert werden, desto schwieriger. „Wir bitten dich, dass alle Kranken wieder gesund werden.“ Da weiß ich gleich, dass ich vermutlich enttäuscht werde. Vielleicht formuliere ich dann so: „Schicke zu allen Kranken Menschen, die ihnen beistehen.“ Entschärft, da kann nichts schiefgehen.
Überzeugt aber auch nicht, klingt eher nach: Wenn du schon nicht heilst, Gott, dann schicke wenigstens ein paar nette Besucher.
Beten bewirkt etwas. So lange diese „etwas“ im Vordergrund steht, verpasse ich die Pointe des Betens. Für mich heißt der Satz: Beten wirkt. Beten wirkt.
Und zwar auf alle Beteiligten. Ich glaube, dass unser Beten auf Gott wirkt. Vor allem wenn wir konkret, persönlich und ehrlich beten. Und darauf vertrauen, dass Gott hört und dass wir das in unserem Herz spüren können. Beten wirkt, wenn es unserem echten Vertrauen entspricht. Wenn mir jemand mit offenem Visier und ehrlich sagt, wie es ihm geht, wirkt das auf mich. Und ich bin nicht Gott. Ich glaube, dass Gott viel, viel empfänglicher und sensibler ist, als ich mir das nur vorstellen kann.
Beten wirkt aber auch in anderer Hinsicht, und die ist oft auch heilsam. Sehr schön, finde ich, hat das Rudolf Otto Wiemer in einem kurzen Gebet formuliert: „Schenke mir, Gott, einen Besen, damit ich, zornig über die schlechte Welt, kehren kann lächelnd vor meiner Haustür.“ Da findet einer, die Welt ist ganz schlecht, und merkt beim Beten, dass er als erstes vor seiner eigenen Haustür kehren muss. Das Beten wirkt auf ihn selbst zurück.
Das Schöne am Beten ist, dass es überhaupt nicht egoistisch ist, wenn ich für mich selbst etwas erbitte. So wie der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr. Der hat gebetet: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ So bete ich gern.

Der Text von Wolfdietrich Schnurre stammt aus: Als Vaters Bart noch rot war. Ein Roman in Geschichten, Zürich 1958.

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