Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Und das in dem Alter!
Art Tower/Pixabay

Und das in dem Alter!

Vera Langner
Ein Beitrag von Vera Langner, Evangelische Pfarrerin, Ober-Ramstadt
Beitrag anhören:

Es ist ein schleichender Prozess, und er ist aufregend: Alt werden.

Ich erinnere mich noch selbst genau an untrügliche Hinweise: das erste graue Haar, das mein Mann entdeckte und umgehend entfernte.

Dann nach langem Zögern die erste Lesebrille, weil ich nachts die Landkarte nicht mehr lesen konnte, als ich mich verfahren hatte.

Die erste Einladung eines Jugendfreundes zu dessen 60. Geburtstag war auch so ein Tag. Ich schaute ungläubig auf diese Zahl 60, von der ich früher dachte, dass sie das Altgeworden signalisiert. Aber war es nun wirklich schon soweit für meine Generation und mich?

Menschen mit mehr Erfahrung erzählen mir, wie das Altwerden sich später bemerkbar macht. Die Enkel fragen dann nach einem finanziellen Zuschuss zum Führerschein. Die eigenen Kinder meinen irgendwann, man bräuchte ein Hörgerät. Der Blick auf die Todesanzeigen in der Zeitung wird zur Gewohnheit, weil  die eigenen Jahrgänge immer häufiger dabei sind. Und für viele Alltagstätigkeiten muss mehr Zeit eingeplant werden, denn man wird langsamer.

Altwerden ist ein schleichender Prozess, den ich selbst mit zwiespältigen Gefühlen erlebe und beobachte. Wie will ich alt werden? Was ist mir wichtig dabei und vor was fürchte ich mich?

Menschen werden ja ganz unterschiedlich alt, und sie haben dabei verschiedene Lebensentwürfe. Viele von ihnen sind mir ein Vorbild, sie machen mir richtig Mut zum Altwerden. Ein älterer Herr zum Beispiel beginnt mit über 80 Jahren, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben für die Enkel. Daraus sind dann zwei kleine Bücher geworden.

Eine 90-Jährige entscheidet selbständig, dass sie nun ihren Führerschein abgibt. Sie hat sich mit Bus- und Bahnverbindungen vertraut gemacht. Sie hat sich Mitfahrgelegenheiten im Bekanntenkreis gesucht. Und wenn ihr das alles zu mühsam ist, gönnt sie sich ein Taxi, um ihr Ziel zu erreichen.

Andere Senioren zeigen mir aber auch, wie ich eigentlich nicht alt werden möchte: Mürrisch, einsam und unzufrieden erlebe ich sie manchmal, alte Menschen, die nur am Schimpfen sind und wettern über die Zustände, die Nachbarn, die Jugend und das Wetter. Wieviel Kränkungen, Not und Elend mag ihnen im Leben begegnet sein, dass sie so bitter geworden sind? Manche sind auch schwer krank oder von Schmerzen geplagt. Ist so das Leben noch lebenswert? Viele Menschen stellen solche Fragen.

Ich möchte, wie vermutlich ganz viele Menschen, bis ins hohe Alter noch lebensfroh bleiben, dankbar sein und vielleicht sogar altersweise. Aber: Habe ich das in der Hand?

Kann mir dabei auch mein Glaube helfen?

„Was sagt eigentlich die Bibel dazu?“ Das hat mich jemand in einem Gesprächskreis gefragt. Darin ging es um das Thema: In Würde altern - wie geht das?

Also bei Jesus können wir schlecht nachfragen, dachte ich spontan. Der ist ja schon mit Anfang 30 gestorben. Aber dann fielen mir Sara und Abraham ein. Von ihnen schreibt die Bibel, dass sie alt und lebenssatt wurden. Das klingt irgendwie gut, finde ich. Auf dem Weg dorthin erleben die beiden aber auch so manches Abenteuer. Altwerden ist eben ein schleichender Prozess, und er ist aufregend.

Musik: Georg Friedrich Thelemann, Grazioso aus Concerto in D-Dur für Oboe und 2 Violinen, (Thomas Indermühle, Oboe)

Abraham soll schon 75 Jahre alt gewesen sein, so sagt die Bibel - da bricht ganz unvermittelt die Stimme Gottes in sein Leben: „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.“ (1. Mose 12,1)

Welche Erschütterung mag durch diesen alten Mann gegangen sein! Sein ganzes Leben hatte er in und um Haran verbracht, eine Siedlung in der fruchtbaren Ebene zwischen Euphrat und Tigris. Was für eine Zumutung: alles zurücklassen, was er vom Vater übernommen hatte und was er dann weiter auf- und ausgebaut hatte! Und jetzt die Ansage Gottes: Zieh noch mal los. Mit 75 noch mal neu anfangen, auf Wanderschaft gehen mit den Viehherden und dem ganzen Familienclan?

Was konnte alles passieren auf diesem Weg? Und wie weit war es denn überhaupt bis in dieses gelobte Land, das Gott ihm zeigen wollte? Solche Fragen und Zweifel werden wohl jedem in einer solchen Situation durch den Kopf gehen. Doch damit hält sich die Bibel nicht auf. Sie berichtet nur lapidar: Da zog Abraham aus, wie Gott zu ihm gesagt hatte. Seine Frau Sara begleitet ihn und auch Lot, der Sohn seines Bruders. Sie nehmen alles mit, was sie besitzen. Dazu gehören auch Tiere und Personal, und dann machen sie sich als Karawane auf den Weg mit unbekanntem Ziel, doch offenbar mit dem Vertrauen: Gott will unseren Aufbruch und unseren Weg segnen, und wir werden das Ziel erreichen, denn Gott wird es uns zeigen.

Was für ein Mut! Was für ein Vertrauen! Und das in dem Alter!

Viele Senioren halten sich lieber an das, was sie kennen. Aber auch viele von ihnen müssen mitunter aufbrechen, mal freiwillig, mal unfreiwillig. Wenn die langjährige Lebensgefährtin stirbt und man das Leben nochmals neu sortieren muss. Wenn es allein zu Hause nicht mehr geht und man mehr Unterstützung und Pflege braucht. Oder wenn man im Alter noch einmal jemand findet, mit dem man sein Leben teilen kann. Das sind große Umstellungen, und man muss Neuland betreten so wie Abraham und Sara. Sie nehmen Abschied von liebgewordenen Gewohnheiten, von einer vertrauten Umgebung, von Menschen, die ihnen ans Herz gewachsen waren. Aufbruch ins unbekannte gelobte Land. Vielleicht ist das auch ein Bild für den Weg ins Alter: Neuland betreten. In Würde alt werden mag heißen: vertrauen auf den Lebensweg, den ich mir nicht selbst ausgesucht habe, sondern auf dem ich geführt werde. Vielleicht ist es diese Grundhaltung, die ich brauche, um das Altwerden wie ein segensreiches Abenteuer zu erleben? Denn natürlich weiß ich: Altwerden ist nichts für Feiglinge.

Musik. Johann Sebastian Bach, Wer nur den lieben Gott läßt walten (BWV 93), Bach Collegium Japan unter Mazaaki Suzuki

Abraham und Sara sind unterwegs. Ein altes Paar, das Gott aus seinem bisherigen Leben herausgerufen hat. Unterwegs lernt Abraham seine Frau Sara wieder neu als seinen Schatz kennen – allerdings auf schmerzlichen Umwegen und für ihn ziemlich unrühmlich. Und das kam so:

Abraham und Sara näherten sich Ägypten. Dabei wird Abraham bewusst, wie schön seine Frau ist, welche Würde sie ausstrahlt, aber auch welche Begehrlichkeiten sie wecken könnte bei den Machthabern des Landes. Vielleicht würde er als Ehemann einfach aus dem Weg geräumt und beseitigt, damit seine Frau einem anderen Mann gehören konnte? Abraham machte sich Sorgen. Der Pharao in Ägypten war ja ein gottgleicher Herrscher, der sich einfach nehmen konnte, was er wollte. Hatte man nicht schon die schlimmsten Geschichten von Pharaonen gehört? Abraham bekam Angst. Er konstruiert eine neue Wahrheit. Er gibt seine schöne Frau Sara als seine Schwester aus, nicht um sie zu schützen, sondern sich selbst. Er liefert sie dabei aus und bekommt dafür noch jede Menge Schafe, Ziegen, Esel und Kamele geschenkt. Und seine Frau muss dieses Versteckspiel mitspielen, wird prompt an den Hof des Pharao geholt. Die Oberen dort und die Herrscher des Landes sind von ihrer Schönheit angetan. Der Pharao holt sie in sein Bett. Doch danach trifft ihn unerklärliches Unglück. Schließlich kommt die Wahrheit ans Licht. Er hat Unrecht getan – ohne es zu wissen. Die Geschichte endet dennoch glimpflich: Der Pharao gibt Abraham seine Frau Sara zurück, er bestraft ihn nicht für diesen Betrug. Aber er macht ihm Vorhaltungen: Warum hast du mir das angetan? Die Wahrheit hätte uns vor dem unrechten Tun bewahrt und vor dem Unglück, dass mich getroffen hat.

Und dann durften beide, Abraham und Sara, das Land verlassen, beschämt, aber auch reich beschenkt mit neuer Lebenserfahrung und großem Besitz. (1. Mose 12,10-20)

Die Geschichte von Abraham und Sara lädt mich bis heute ein nachzudenken: Was ist eine gelingende Partnerschaft im Alter? Wie kann man als Paar trotz der Ängste einen guten Weg miteinander finden? Und wie können beide aus Fehlern lernen und einander vor Unrecht bewahren? Denn Alter schützt vor Torheit nicht! Auch darauf muss ich mich wohl einstellen. Die biblische Geschichte ermutigt mich, an eigenen Fehlern nicht zu verzweifeln, sondern nach Lösungen zu suchen, die für alle Beteiligten segensreich sind. Dazu gehört sicher, einander nicht zu verleugnen, sondern füreinander einzustehen, füreinander aufmerksam zu bleiben, einander mit der nötigen Wertschätzung zu begegnen. Und das Gewohnte nicht für selbstverständlich zu halten.

Musik. Gaetano Brunetti, Allegro aus Sonata D Major, (Nils Mökemeyer, Viola)

Zum Altwerden gehören wohl auch die Konflikte mit der jungen Generation. In vielen Familien kommt es zwischen Alten und Jungen ständig zu Streit über den richtigen Weg, zu Rivalitäten und Auseinandersetzungen. Oft geht es dabei ums Geld und ums Erbe. Die Weggeschichte von Abraham und Sara lässt mich ganz neu darüber nachdenken.

Abraham und Sara waren ja aufgebrochen gemeinsam mit ihrem Neffen, dem Sohn von Abrahams Bruder. Er heißt Lot. Lot und Abraham hatten jeweils große Herden und beschäftigten etliche Hirten. Jetzt, nachdem sie Ägypten wieder verlassen hatten, kam es zwischen ihnen immer wieder zu Streitigkeiten. Die Weidegründe waren begrenzt, der Boden brachte nicht genug Ertrag für all die vielen Tiere, die zu ihrem jeweiligen Besitz gehörten.

Da ergriff Abraham, der Ältere die Initiative. Er sagte zu Lot, dem Jüngeren: „Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Brüder. Steht dir nicht das ganze Land offen? Trenne dich doch von mir!“ (1. Mose 13,8)

Und dann überlässt der Ältere dem Jüngeren die Wahl und sagt: Schau dich um und suche dir die Gegend aus, in der du zukünftig mit deinen Herden weiterziehen willst. Ich werde dann in die andere Richtung weitergehen. Da entscheidet sich Lot für die wasserreiche und fruchtbare Flussebene des Jordan, und Abraham nimmt Vorlieb mit der bergigen und weniger fruchtbaren Gegend im Lande Kanaan.

So stellt Abraham den Familienfrieden wieder her. Er verzichtet darauf, möglichst viel Gewinn zu erzielen. Der Frieden in der Familie ist ihm wichtiger. Mit weniger hat er immer noch mehr als er braucht. Das Land war ja groß und weit. Und so reichte es für alle. Manchmal sind auch getrennte Wege gesegnete Wege.

Als ich mir diese Geschichte in der Bibel in aller Ruhe durchgelesen habe, spürte ich, wie sich in mir eine wunderbare Ruhe und Gelassenheit einstellte. Ich kann also den Jüngeren den Vortritt lassen. Sie werden ihren Weg finden. Und ich selbst brauche vielleicht gar nicht mehr so viel, und es reicht für alle. So kann jeder getrost seinen eigenen Weg gehen. Auch darin könnte im Alter der Segen stecken, den Gott zugesagt hat.

Musik: Guiliano Caccini, Ave Maria (Anne-Sophie Bertrand, Harfe)

Wer alt wird, erlebt es oft als bedrohlich, immer weniger leisten zu können. Viele, die im Leben sehr aktiv waren, erleben das Altwerden deshalb als einen ständigen Trauerprozess. Es fühlt sich so an, als würden sie immer nutzloser und weniger wert, weil sie immer weniger leisten können. Ja, sogar sinnlos kommt vielen Menschen das Leben vor, wenn sie pflegebedürftig werden. Sie sind dann auf fremde Hilfe und Liebe angewiesen und oft ist keine Besserung mehr in Aussicht. Wie ist das dann mit der Würde des Alters?

Sara, die hochbetagte Frau von Abraham, macht da eine ganz wunderbare Erfahrung. Auf den ersten Blick ist die Geschichte ganz und gar unmöglich. Aber ich habe für mich selbst darin eine wichtige Glaubenserfahrung entdeckt.

Abraham und Sara hatten einen Herzenswunsch, der ihnen bis ins hohe Alter nicht erfüllt worden war: Sie hatten keine eigenen Kinder. Das war ein großer Schmerz, besonders für Sara. So manche Demütigung hatte sie sich schon gefallen lassen müssen, hatte gelitten unter dieser Situation, in der sie sich so hilflos vorkam. Und nun waren sie beide schon viel zu alt, um noch Kinder zu bekommen. Es gab keine Hoffnung mehr, noch Mutter zu werden. Das wusste Sara. Deshalb lachte sie, als drei geheimnisvolle Boten ihrem Mann mitteilen: „In einem Jahr wird deine Frau Sara einen Sohn haben.“ (1. Mose 18,11-12) Auch Abraham konnte es nicht glauben. Aber dann geschah das, was biologisch und nach menschlichem Ermessen gar nicht mehr geht: Sara wird im hohen Alter schwanger, und Abraham wird im Alter von 100 Jahren noch stolzer Vater eines Sohnes. So erzählt es die Bibel.

Für mich ist das ein Wunder. Zwei alte Menschen entdecken: Gott will mit seiner Liebe durch uns noch etwas zur Welt bringen, was Segen bedeutet.

Solche Wunder gibt es auch heute. Ich meine jetzt nicht, was die Medizin in Sachen Fortpflanzung mittlerweile zuwege bringt. Für mich ist es ein Wunder, wenn ein Mann seine hilfsbedürftige Frau über Jahre hinweg liebevoll pflegt. Und Angehörige sagen mir, dass er früher seine Frau immer nur rum kommandiert habe,  jetzt aber ein ganz anderer Mensch geworden sei. Dass eine solche Wandlung möglich ist, empfinde ich als wunderbar.

Oder eine ehemalige Krankenschwester: Als alleinstehende Frau kam sie sich nutzlos vor, als sie selbst krank und pflegebedürftig wurde. Aber dann entdeckt sie, dass sie auch im Alter noch viel Trost und Kraft weitergeben kann durch ihr Gebet im Krankenbett, durch ihre Anteilnahme am Schicksal anderer, denen sie zuhören kann.

Für mich ist es ein Wunder, wenn eine Frau erkennt, dass ihr Leben auch ohne eigene Kinder, um die sie so lange gebetet hatte, gesegnet ist. Und dass Gott in sie hinein viele Gaben und Begabungen gelegt hat, die heranreifen und zur Welt kommen dürfen. Auch so kann sie die Welt bereichern.

In der Geschichte von Sara und Abraham erkenne ich, was mir im Glauben Kraft und Hoffnung gibt: Bei Gott ist nichts unmöglich. Gottes Liebe wird mir immer wieder neue Lebensmöglichkeiten zeigen, und ich werde vielleicht noch so manches Wunder erleben dürfen. Es wird Konflikte geben, und ich werde Fehler machen. Aber ich vertraue darauf, dass Gott auch im Alter viel mit mir vorhat. Also gehe ich getrost meinen Weg weiter mit grauen Haaren, Lesebrille und Hüftprothese. Ich freue mich darüber, dass bei Gott auch die alten und schwachen Menschen noch wunderbare Botschafterinnen und Botschafter sein können für Segen, der die Welt verändert.

Musik: Johann Sebastian Bach, Nun danket alle Gott (BWV 120a), Bach Collegium Japan unter Mazaaki Suzuki

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren