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Nächstenliebe darf Spaß machen

Nächstenliebe darf Spaß machen

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Jan ist Anfang vierzig und öfters genervt. Ständig hat er das Gefühl, dass andere ihn zu etwas drängen. Die Gesellschaft. Oder der gute Ton. Ja, er weiß: Es gibt viele Missstände und Entwicklungen, wo er eigentlich mit anpacken müsste. Nebenan die Flüchtlingsunterkunft zum Beispiel. Jan kennt einige Bekannte, die dort Deutsch unterrichten oder Kleider sammeln. Im Prinzip findet Jan das auch richtig. Aber er selbst hat so gar keine Lust dazu. Jaja. Man müsste mal.

Vor einiger Zeit habe ich Jan mal wieder gesehen. Er hat mir davon erzählt, wie er Klaus getroffen hat. Klaus ist etwa so alt wie er, um die 40. Klaus hat mal Jura studiert und auch ein bisschen Philosophie. Er ist sehr belesen und weiß über jedes Thema Bescheid. Aber irgendetwas ist im Leben von Klaus gründlich schief gelaufen. Denn Klaus lebt seit drei Jahren auf der Straße.

Klaus trinkt keinen Alkohol und nimmt keine Drogen. Manchmal ist er schon ein bisschen eigenwillig. Aber Klaus ist gut organisiert. Er sammelt Pfandflaschen und schläft auf einer Isomatte unter einer Brücke. Dort hatte Jan ihn auf dem Weg zur Arbeit schon oft gesehen. Irgendwann ist Jan einfach bei Klaus stehen geblieben. Die beiden sind schnell ins Gespräch gekommen. Über Autos, über Fußball, über Politik und Wirtschaft. Jetzt bringt Jan ab und zu Sachen bei Klaus vorbei, die der gut gebrauchen kann: ein paar Turnschuhe, eine Regenjacke, eine Taschenlampe oder einfach ein paar Äpfel, Brot und Käse.

Oft denkt Jan: „Das hätte mir auch passieren können. Es geht so schnell, auf der Straße zu landen.“ Und plötzlich fällt es Jan gar nicht mehr schwer zu helfen oder zuzuhören. Nicht weil er muss. Nicht aus Pflicht. Einfach so. Er kann nicht anders.

Der Philosoph Immanuel Kant aus dem 18.Jahrhundert wollte allein durch Logik und Vernunft Regeln für das gute Handeln finden. Deshalb sollte die Pflicht das einzige Motiv für das Handeln sein. Nicht die Freude. Da hat Kant die Rechnung aber ohne den Menschen gemacht, finde ich. Wenn ich etwas langfristig tun soll, dann muss ich motiviert sein, sonst halte ich das nicht lange durch. Wobei mein Handeln durchaus vernünftig sein soll, da hat Kant natürlich recht.

Ich glaube ja, dass Gott mir helfen muss, wenn ich etwas Gutes tue. Gott lenkt meine Sehnsucht und meine Aufmerksamkeit. Und dann engagiere ich mich da, wo es mir Freude macht. Ich denke: Nächstenliebe ist nicht Pflichterfüllung, sondern sie macht Spaß und ist ein Bedürfnis. Jede und jeder muss nur für sich den richtigen Einsatzort finden. Ob es das Flüchtlingsheim oder das Tierheim oder die eigene demente Mutter ist, die man pflegt, das ist zweitrangig.

Jan jedenfalls macht es Spaß, Klaus hin und wieder zu besuchen. Vor kurzem war es kalt und regnerisch. Da ist Jan mit seinem Auto ganz nah an die Brücke gefahren. Er hat den Motor laufen lassen, Klaus ist eingestiegen und konnte sich im warmen Auto aufwärmen. Und einen heißen Kaffee und ein Bratwürstchen gab es auch dazu.

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