Ihr Suchbegriff
Israels Glaubensbekenntnis
Bildquelle Pixabay

Israels Glaubensbekenntnis

Dr. Joachim Schmidt
Ein Beitrag von Dr. Joachim Schmidt, Evangelischer Pfarrer, Darmstadt

Sprecher: Jochen Nix • Musikkonzeption: Uwe Krause

Für die wenigen Jahre, die jeder von uns Menschen auf unserer alten Erde verbringt, haben wir es uns eigentlich ganz behaglich eingerichtet. Zumindest hier in Europa oder gerade bei uns in Deutschland, wo es derzeit kaum Arbeitslosigkeit gibt. Wohlstand und Reichtum kennen bei uns offenbar nur noch eine Richtung: nach oben. Im Alltag mit seinen kleinen und größeren Problemen mag es manchmal aus dem Blick geraten, aber von außen betrachtet leben wir im Paradies. Im Unterschied zum allergrößten Teil der Welt.
Deshalb sind Europa und besonders Deutschland Sehnsuchts-Ort für viele Millionen geflüchtete Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um hierher zu kommen. Aber nach einem kurzen Moment politischer Großherzigkeit gegenüber diesen Elenden vor etwas mehr als zwei Jahren ist Deutschland dabei, die Grenzen dicht zu machen. Mit Erfolg. Der Zustrom hat nachgelassen.
Nicht zum ersten Mal hat Deutschland ein Flüchtlingsproblem. Das war so nach dem Zweiten Weltkrieg. Millionen Menschen verloren im Osten ihre Heimat, und man empfing sie im Westen meist mit offener Ablehnung. Das war so in den 90er Jahren im Balkan- und dann im ersten Irak-Krieg. Und nun ist es wieder so. In den so genannten sozialen Medien entladen sich Hass und Wut auf die Fremden, und politische Gruppierungen bringen diesen Hass ganz offen auf die Straße und in die öffentlichen Debatten.
Ich möchte deshalb heute Morgen mit Ihnen über die ewige menschliche Angst vor dem Fremden nachdenken. Und ich lade Sie ein, mit mir in Gedanken eine Reise weit zurück in die Geschichte unternehmen. Wir verlassen unser altes Europa und fliegen nach Südost, zweitausend Kilometer über das Mittelmeer bis nach Palästina, dreitausend Jahre vor unserer Zeit.

Musik:
Johan Sebastian Bach
Konzert für Oboe, Streicher und B.C.
Albrecht Mayer, The English Concert

Dreitausend Jahre sind wir in der Geschichte zurückgegangen. Wir sind in einem fruchtbaren Landstrich angekommen, wenig größer als Hessen. Später wird man dieses Land einmal Palästina nennen. Auf der einen Seite ist es vom Meer begrenzt, auf der anderen Seite von der lebensfeindlichen Syrischen Wüste. Es gibt viele kleine Herrschaftsbereiche von Stämmen und Sippen. Erbitterte Kämpfe toben um Weide- und Ackerland, um Wasserplätze und die wenigen, halbwegs befestigten Ortschaften. Das Land ist begehrt, und es ist nur eine Frage der Zeit, wer von den mächtigen Nachbarn den nächsten Eroberungs- oder Vernichtungsfeldzug führt.
Das Land gehört zum so genannten „Fruchtbaren Halbmond“, einer Region, die sich über tausend Kilometer wie ein gewölbtes Dach über den Nordrand der Syrischen Wüste erstreckt, vom Persischen Golf im Irak über den Norden von Syrien, den Libanon, Israel, Palästina und Jordanien. Hier regnet es im Winter, deshalb ist das Land fruchtbar. Manche Forscher meinen, in dieser Gegend sei einst die Erzählung vom Paradies entstanden.
In jenen unruhigen Zeiten um das Jahr 1000 vor Christus wandern Fremde aus der Wüste von Süden her ein. Sie sind in kleinen Gruppen unterwegs, werden zunächst kaum bemerkt, gelegentlich in Scharmützel verwickelt, dann wieder in Ruhe gelassen. Die Fremden nennen den schmalen Streifen entlang der Meeresküste „das Land, wo Milch und Honig fließen“. Endlich gibt es genug Wasser für alle. Ihre Herden finden gute Weiden, die Bäume tragen Früchte und die Bienen bringen eine reiche Honigernte. Sie kommen sich vor wie im Paradies, und sie bleiben.
Habiru oder auch Hebräer nennen die einheimischen Sippen ein wenig abschätzig diese Fremden, und das heißt so viel wie: die Heruntergekommenen, die Asozialen. Diese merkwürdigen Menschen leben einfach und unter sich und vor allem: Sie feiern nicht mit bei den ausschweifenden Wohlstands- und Fruchtbarkeitsfesten der Ureinwohner. Das hängt mit ihrem fremden Glauben zusammen, den sie aus der Wüste mitgebracht haben.
Die Hebräer glauben nicht wie die Alteingesessenen, dass auf jedem Berg, in jedem Fluss, jedem Stein und jedem Baum eine Gottheit wohnt, sondern sie sprechen immer wieder von einem einzigen Gott. Er ist so groß und heilig, dass sie nicht einmal seinen Namen aussprechen dürfen. Bei ihren Zeitgenossen ruft das allenfalls Gelächter hervor: Ein einziger Gott, der nicht einmal einen Namen hat, wofür soll der denn gut sein?
Aber die Hebräer fassen Fuß in dem Land, in dem für sie Milch und Honig fließen, sie wachsen über Generationen allmählich zusammen zu einem Volk, und sie bewahren den Glauben an den einen Gott, auch wenn die vielen Fruchtbarkeits-Heiligtümer um sie herum noch so verlockend erscheinen mögen. Was sie zusammenhält, ist die Erinnerung an die Erfahrungen ihrer Väter und Mütter mit diesem Gott. Die Geschichten darüber werden über Generationen immer wieder neu erzählt, besonders am heiligen siebenten Tag der Woche, wenn sich die Sippen zum Gebet versammeln. Und irgendwann werden sie aufgeschrieben. Man findet einen dieser Texte heute im Alten Testament der Bibel, im fünften Buch Mose im Kapitel 26. Es ist eine uralte Anleitung zum Gottesdienst:

Dann sollst du anheben und sagen vor dem Herrn, deinem Gott: Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf.
Da schrien wir zu dem Herrn, dem Gott unserer Väter. Und der Herr erhörte unser Schreien und sah unser Elend und unsere Angst und unsere Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder und brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, darin Milch und Honig fließen.

Musik:
Johann Sebastian Bach
Was Gott tut das ist wohlgetan
Albrecht Mayer, The English Concert

Mein Vater war ein Aramäer, ein armer Nomade, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling.

An diesen uralten Versen aus dem Alten Testament kommt man nicht vorbei, wenn es um die Begegnung mit Fremden geht. Dieses Bekenntnis entspringt der tiefen Erfahrung des Volkes Israel, dass sie immer wieder in ihrer Geschichte selbst Fremde und Flüchtlinge gewesen sind. Erst hatte eine Hungersnot die Väter als Armuts- oder Wirtschaftsflüchtlinge ins reiche Ägypten getrieben. Dort waren sie über Jahrzehnte Ausländer, die zu Hungerlöhnen arbeiten mussten. Und als sie nach Generationen und unter vielen Entbehrungen wieder zurückkamen, da waren sie wieder die Ausländer.
Nach heutigen deutschen und sogar nach den Maßstäben internationalen Rechts hätte keine der abgerissenen Habiru-Sippen, die da einst von der Sinai-Halbinsel her in ihr Gelobtes Landes einzuwandern suchten, auch nur den Hauch einer Chance gehabt. „Du lieber Himmel: Wirtschaftsflüchtlinge. Haben uns gerade noch gefehlt! „Können Sie nachweisen, dass Ihnen zuhause Gefahr für Leib und Leben drohte? Haben Sie eine Aussicht, politisches Asyl zu bekommen und bleiben zu dürfen? Nein? Dann müssen leider Sie wieder gehen.“
Schon lange wird in der politischen Debatte der Begriff Wirtschaftsflüchtling benutzt, um Flüchtlingen ein Bleiberecht abzusprechen, und das Wort hat meist einen sehr verächtlichen Klang. Wirtschaftsflüchtlinge: Wollen sich hier wohl ins gemachte Bett setzen! Aber ist es nicht das Normalste von der Welt, dass Menschen sich auf den Weg machen, um ihrem Elend zu entkommen? Würden Sie und ich das nicht genau so machen? Aber für uns und die anderen reichen westlichen Nationen stellt sich die Frage nicht. Zurzeit nicht. Wir leben ja im Paradies.

Musik:
Johann Sebastian Bach
Konzert für Englishhorn, Streicher und B.C.
Albrecht Mayer, The English Concert

Mein Vater war ein Aramäer, ein armer Nomade, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling.

Die Geschichte Deutschlands und der Welt sind voll von Flüchtlingsgeschichten. Es gibt vermutlich niemanden in unserem Land, dessen Vorfahren samt und sonders schon immer hier gelebt hätten. Die meisten kamen irgendwann von anderswo her, mussten ihre Heimat verlassen und eine neue suchen, als Glaubensflüchtlinge wie die Hugenotten oder die Waldenser, als Wanderarbeiter, auf der Flucht vor Kriegen oder Vertreibungen. Anders als wir in Deutschland hat das Volk Israel diese Erinnerung in seinen Gottesdiensten und Gebeten bewahrt.
Und mit dem Gedanken an die Heimatlosigkeit der Vorfahren verband sich auch das Wissen, dass es nichts gibt, was wir Menschen auf dieser Welt für alle Zeit besitzen können. Die Zeitspanne unseres Lebens ist kurz, und am Ende werden wir nichts festhalten können. Je älter man wird, desto mehr beginnt man, das zu begreifen. Und immer häufiger kommt dann die Erfahrung, dass jeder wieder hergeben muss, was er so sicher zu besitzen meinte, sei es die Jugend, seien es körperliche Fähigkeiten, Beziehungen oder Erinnerungen. Bleiben, geborgen sein und Heimat finden, es ist immer nur eine Sache auf Zeit. Wie bei einem Fremden, der bald weiterziehen muss.
Und die uralte Antwort des Volkes Israel auf die Frage: Was bleibt? lautet: Der eine Gott, der die Väter in der Fremde bewahrt hat.

Und der Herr erhörte unser Schreien und sah unser Elend und unsere Angst und unsere Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder und gab uns dieses Land, darin Milch und Honig fließen.

Musik:
Johann Sebastian Bach
Sei Lob und Preis
Bach-Collegium Japan unter Mazaaki Suzuki

Wir sind nur Gast auf Erden. Das zuzugeben, ist nicht leicht. Denn dieser Erinnerung steht ein tiefsitzendes Bedürfnis bei vielen Menschen gegenüber, ein Stück Erde als Eigentum zu betrachten. Das soll sie von den Fremden unterscheiden. Schon immer sind die Alteingesessenen denen, die später kamen, misstrauisch gegenübergetreten. Freundliche Aufnahme ist eher selten, Ablehnung und offene Feindschaft der Ansässigen weit häufiger. Ich denke, das hat mit Menschheitserfahrungen zu tun, die noch aus dem Kampf ums nackte Dasein stammen. Wer Weideplätze oder eine Quelle oder einen von der Natur befestigten Ort besetzt hielt, der verteidigte ihn gegen Eindringlinge. Denn sein Besitz sicherte sein Leben. Schon immer wohnten das Misstrauen gegen Fremde und die Sorge um das eigene Leben nahe beieinander. Und was ist diese Sorge anderes als die Angst vor dem Verlust der Lebensgrundlagen und letztlich vor dem eigenen Tod?
Es gibt Menschen, die finden es einfach ungerecht, dass die Flüchtlinge nicht einfach wieder abgeschoben werden, sondern eine Unterkunft, Essen und Trinken und ein Asylverfahren nach rechtstaatlichen Grundsätzen erhalten, das manchmal lange dauern kann. Das ist dann wieder die alte Front: Wer zuerst da war, der beansprucht die älteren Rechte, der bestimmt die Spielregeln, der ist der Stärkere. Und darauf kommt es an: der Stärkere zu sein, damit man nie wieder zu kurz kommt.
Aber durch die Geschichte des jüdischen und des christlichen Glaubens zieht sich wie ein roter Faden die Erinnerung daran, dass solche Stärke nicht nur vor Gott, sondern auch vor aller Lebenserfahrung nicht viel wert ist. Die Zeit vor 3000 Jahren, in der das jüdische Volk ein eigenes, starkes Staatswesen aufbauen konnte, war nur kurz. Bald gab es Besetzungen durch fremde Truppen, Vertreibung, Exil, Rückkehr ohne politische Freiheit, Not, immer neue Schikanen und schließlich sogar die Zerstörung ihres Tempels durch die Römer. Ich denke, dass damals in Israel und erst recht in den zweitausend Jahren danach die uralten Worte vom Gott der heimatlosen Aramäer noch ganz anders gesprochen und verstanden wurden als in glücklichen Zeiten.
Vielleicht hat auch Jesus an diese uralte Überlieferung seines Volkes gedacht, als er einmal sagte, wer einen Fremden beherberge, der nehme Gott selbst auf. Diese Botschaft geht gegen das, was heute manche Menschen empfinden, aber sie nimmt die Erfahrung mit dem Leben ernst. Die Fremden sind nicht von vornherein lebensbedrohend, wie es seit grauer Vorzeit vom Kampf um Futterplätze und Wasserstellen überliefert wird, und wie es Rückwärtsgewandte bis heute lautstark propagieren. Sondern in denen, die kein Zuhause haben, begegnet uns Gott selbst.
Viele Christen und freiwillige Gruppen in unserem Land haben das verstanden und engagieren sich in ungezählten Flüchtlings-Initiativen. Manchmal reichen ihre Kräfte nicht aus. Oft sind sie enttäuscht angesichts der Not und ihrer begrenzten Möglichkeiten. Aber sie kommen wieder, und sie machen weiter. Es gibt viele solcher Gruppen in unserem Land. Sie leben vor, was die Juden immer wussten und die Christen in ihrem Glauben bewahrt haben. Dass wir in Wahrheit alle miteinander auf dieser Erde Ausländer sind. Ein altes Kirchenlied drückt diesen Gedanken noch deutlicher und überraschender aus:

Nun bitten wir den Heiligen Geist
um den rechten Glauben allermeist.
Dass er uns behüte an unserm Ende,
wenn wir heimfahr‘n aus diesem Elende.
Kyrieleis.

Elend und Ausland, das ist in der deutschen Sprache einmal das gleiche Wort gewesen. Am Ende sollen wir aus dem Elend nach Hause kommen. Nach Hause, das heißt: Zu Gott. Es ist genau dieser Gedanke, dass wir im Leben unterwegs sind wie Fremde, die in Wirklichkeit kein Zuhause haben. Aber eines Tages werden wir nach Hause kommen.

Musik:
Michael Praetorius
Nun bitten wir den Heiligen Geist
Athesinus Consort Berlin unter Klaus Martin Bressgott

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren