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"Du, Nachbar Gott"
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"Du, Nachbar Gott"

Dr. Ansgar Wucherpfennig
Ein Beitrag von Dr. Ansgar Wucherpfennig, Jesuitenpater, Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt
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„Du, Nachbar Gott,“ so beginnt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke, das mich in diesem Advent bewegt hat. Es steht in dem Zyklus „Stundenbuch“, der um 1900 entstanden ist. Seine ersten Zeilen lauten: „Du, Nachbar, Gott, wenn ich dich manchesmal / in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, so ist’s weil ich dich selten atmen höre, und weiß, du bist allein im Saal.“

Eine schwacher menschlicher Gott

Gott ist in diesem Gedicht kein starker Gott. Manchmal wünsche ich mir einen starken Gott; zum Beispiel einen Gott, der der Pandemie endlich ein Ende bereitet; der für weltweite Impfgerechtigkeit sorgt; oder auch dafür, dass an Weihnachten niemand auf unseren Straßen sitzen muss, um zu betteln. In Rilkes Gedicht ist Gott schwach und menschlich: Er sitzt im Raum nebenan und hat niemanden. Wenn er mit seiner leisen Stimme ruft und nach Hilfe tastet, ist kein Mensch da, um ihm einen Trank zu reichen. Gott selbst ist ein verletzlicher, gebrechlicher Armer, der sich nach Hilfe sehnt. Er ist kein Gott, bei dem ich einen Wunschzettel für die Nöte dieser Welt abgeben kann. Für viele davon kann ich selber etwas tun, allein oder auch zusammen mit Anderen.

Im Grunde trennt uns nur ein Hauch von Gott

Nicht in der Stärke zeigt Gott seine Nähe in Rilkes Gedicht, sondern anders, und das hat mit dem Advent zu tun. Da heißt es: „Nur eine schmale Wand ist zwischen uns, durch Zufall; denn es könnte sein: ein Rufen deines oder meines Munds – und sie bricht ein ganz ohne Lärm und Laut.“ Was Gott von uns trennt, ist im Grunde nur ein Hauch, er kann auf einmal verschwinden.

Gott schenkt den Zufall

Gott ist nicht erst dann da, wenn der Adventskalender zuende geht. Gott kommt nicht erst an Weihnachten, nicht als glanzvoller Friedenskönig. Oft ist Gott nicht da, wo Gloria gesungen wird mit Menschen und mit Engelszungen. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass Gott für mich als Christ in Jesus ein menschliches Gesicht bekommen hat. Gott funktioniert nicht nach meinen Festkalendern. Gott schenkt den Zufall. Wie bei einem Zufall, kann es sein, dass Gott ruft oder dass ich rufe, und wir auf einmal zusammen sind. Liebende haben ein Gespür für solche Zufälle.

In der Stille, den Nächten kann Gott auf einmal da sein

In der Mitte von Rilkes Gedicht spricht das lyrische Ich zu Gott: „Ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen, ich bin ganz nah.“ In den Nächten lässt sich Gottes Rufen hören. Im Dunkel und überall dort, wo es nicht so viel gibt, das ablenkt. In der Stille der Nacht kann Gott dann auf einmal da sein. Das ist Advent, Ankunft Gottes in unserem Leben und ich wünsche mir und Ihnen, dass wir dann spüren, wie nahe Gottes Nachbarschaft sein kann.

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