Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Dem Feind die Hand geben - 75 Jahre Frieden
Rawf8/GettyImages

Dem Feind die Hand geben - 75 Jahre Frieden

Ein Beitrag von Veit Dinkelaker, Evangelischer Pfarrer und Referent am Bibelhaus Erlebnis Museum Frankfurt
Beitrag anhören:

Eines Tages im Frühjahr war der Krieg vorbei. Jedenfalls an vielen Stellen hierzulande vor fünfundsiebzig Jahren: Amerikanische Truppen kamen von Ort zu Ort und beendeten den Krieg. In jedem Dorf, in jeder Stadt in Westdeutschland gibt es Erinnerungen, wann genau das war. Offiziell war Frieden ein paar Wochen später, am 8. Mai 1945. Doch der Tag, als es Frieden in ihrem Ort gab, hat sich vielen besonders eingeprägt.

Jetzt ändert sich alles

Mir hat von einem dieser Tage im April ein Mann erzählt, der damals sieben Jahre alt war, der Sohn eines Dorfpfarrers. Er erzählt von dem Moment, in dem er verstanden hat:  Jetzt ändert sich alles. Von dem Moment, in dem aus Angst Erleichterung wurde.

Heute kommt der Ami

Er erinnert sich an den Hass, den manche im Dorf auch damals in den letzten Kriegstagen noch hatten auf den vermeintlichen Feind. Doch auch die, die heimlich auf die Befreiung vom Nationalsozialismus hofften, hatten große Angst: Was passiert, wenn die Alliierten kommen? Das saß auch vielen Kindern in den Knochen. Irgendwann im April war klar: Jetzt ist es soweit. Die Erwachsenen sagten: Heute kommt der Ami. Zuerst ist es still. Dann hört man Schüsse am Rande des Dorfes. Alle im Haus verstecken sich im Keller. Es ist das Pfarrhaus des Ortes, eines der größeren Häuser. Weil sein Vater, der Pfarrer, erkrankt war, war er nicht im Krieg, sondern bei seiner Familie und in seiner Gemeinde.

Panzer rollen durchs Dorf

Von weitem hört der damals Siebenjährige, wie ein Panzer die Hauptstraße entlangfährt und immer näherkommt. Die Ketten dröhnen auf dem Pflaster. Plötzlich ist es still. Jemand ruft. Schwere Schritte nähern sich dem Pfarrhaus. Der Vater hat seinen Gehrock angezogen, wie an einem Sonntag oder einem Feiertag. Er steigt die Kellertreppe hoch, die anderen kommen hinterher. Er öffnet die Haustür. Als der Mann mir das erzählt, spüre ich noch heute etwas von der Angst und der Bewunderung des kleinen Jungen von damals. Er war nämlich mit den anderen Kindern auch mit nach oben gekommen und versuchte, von hinten zu schauen, was passiert.

Der Handschlag

Der Junge sieht nach draußen und erschrickt: Da steht der Panzer. Wenige Meter vom Haus entfernt. Das Kanonenrohr ist auf das Haus gerichtet. Amerikanische Soldaten mit Maschinengewehren bewegen sich auf sie zu. Ganz vorne ein Offizier. Er kommt die Eingangstreppe hinauf. Und dann das: Der Vater begrüßt den Offizier mit Handschlag. Sie reden miteinander.

Das Kind staunt: Der Vater spricht mit dem Feind wie mit einem normalen Menschen – und umgekehrt. Als wäre es das Selbstverständlichste in der Welt. Kein Schuss fällt. Jetzt muss niemand mehr sterben. Der Krieg ist vorbei für dieses Dorf.

Feind und Feind stehen sich friedlich gegenüber

Nie hat das Kind diesen Moment vergessen, wie sich der Vater und der Offizier die Hand gegeben haben. Es bleibt sein Leben lang das Bild für den Frieden: Wenn Feind und Feind sich die Hand geben. Das geht nicht immer. Hier war es lebensnotwendig.

Irgendwann war Friede

Er weiß heute: Nicht jeder Einmarsch war so friedlich. An anderen Orten wurde geschossen und Menschen sind noch in den letzten Tagen des Krieges gestorben. Und doch: Irgendwann war Friede. Auch wenn es dauerte, das alles zu verstehen. Den Menschen im anderen anzuerkennen. Und noch viel länger hat es gedauert aufzubauen, was Frieden dauerhaft möglich macht: an erster Stelle Recht und Gerechtigkeit. 

Aufrecht aufeinander zugehen

Der Mann erzählt: Diese Erfahrung an der Tür des Pfarrhauses hat ihm auch in Friedenszeiten geholfen. Wenn das mitten im Krieg gelingen kann, dann doch auch, wo es Streit gibt und Unversöhnlichkeit. Das Bild gibt ihm Kraft: Es ist möglich, aufrecht aufeinander zuzugehen, ein Zeichen des Friedens zu geben. Was auch immer zwischen uns steht: Ich sehe in meinem Gegenüber einen Menschen.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren