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Bonhoeffers große Liebe
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Bonhoeffers große Liebe

Dr. Fabian Vogt
Ein Beitrag von Dr. Fabian Vogt, Evangelischer Pfarrer in der Öffentlichkeitsarbeit, Frankfurt

Die Mutter der jungen Adeligen war anfangs gegen die Beziehung. Aus guten Gründen! Der Mann war ja doppelt so alt wie ihre Tochter. Ein geächteter Theologe, ein Bürgerlicher, fast schon kahlköpfig, etwas beleibt und mit unklarer beruflicher Zukunft. Kurz gesagt: In vielem das Gegenteil von dem, was man eine „Gute Partie“ nennt.
Also bestellt die Mutter den umstrittenen Mann auf ihr Landgut und erklärt ihm kurzerhand: „Meine Tochter hat gerade erst ihren Vater und ihren Bruder an der Front verloren. Sie braucht jetzt erst einmal ein Trauerjahr. Das heißt: Ein Jahr lang dürfen Sie meine Tochter weder treffen, noch anrufen oder ihr schreiben. Sollten dann immer noch Gefühle da sein, können wir ja weitersehen.“
Der Theologe hält sich an die Abmachung. Maria aber, die aufmüpfige Tochter, will die verordnete Trennung nicht akzeptieren. Und so diskutiert sie mit ihrer Mutter, bis die – nach einigen Hin und Her – endlich einem Brief zustimmt, den die Tochter schreiben darf. Dem Brief, der einen der schönsten Heiratsanträge enthält, den je eine Frau einem Mann gemacht hat.
Maria formuliert ihn so: „In den letzten Tagen sprach ich mit meiner Mutter und meinem als Vormund eingesetzten Onkel. Nun darf ich Ihnen schreiben. Und ich habe den Mut, Ihnen auf eine Frage zu antworten, die Sie gar nicht an mich richteten. Ich kann Ihnen heute ein von ganzem und frohem Herzen kommendes Ja sagen. Wenn Sie aber erkannt haben, dass ich nicht ausreiche, oder es Ihnen kein Bedürfnis mehr ist, zu mir zu kommen, dann sagen Sie mir das bitte.“
Wenige Tage später trifft die Antwort des Theologen ein. Er jubelt: „Ich bin überwältigt von dem Bewusstsein, dass mir ein Geschenk ohnegleichen zugefallen ist. Mein Herz tut sich auf. Ich kann noch gar nicht fassen, dass dieses Ja über unser ganzes Leben entscheiden soll.“
Fortan betrachten die beiden den 17. Januar 1943 als ihren Verlobungstag.

Maria von Wedemeyer ist vermutlich die berühmteste Verlobte der Weltgeschichte. Die Braut des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer … den sie allerdings erst wiedersieht, als er schon von den Nazis inhaftiert wurde.
Und so spielt sich diese einzigartige Liebesgeschichte vor allem in den Briefen ab, die die beiden einander aus dem Gefängnis und ins Gefängnis schreiben. Briefe voller Sehnsucht, Vertrauen und Mut. Briefe vom Durchhalten, vom Aushalten und vom Standhalten. Und von der Frage, wie man die Hoffnung nicht verliert.
Es lohnt sich, dieser Liebe von Maria von Wedemeyer und Dietrich Bonhoeffer mal nachzuspüren, weil sie deutlich macht, was Menschen trägt, wenn alles um sie zu zerbrechen droht. Und welche Rolle der Glaube in einer solchen Situation spielt. Denn Dietrich Bonhoeffer betet immer wieder: „Gott, ich verstehe deine Wege nicht, aber du weißt den Weg für mich.“

Musik: Claude Debussy, Arabesques (Jean-Yves Thibaudet)

Als Maria von Wedemeyer Dietrich Bonhoeffer das erste Mal im Gefängnis besuchen darf, hat sie ihn ein halbes Jahr lang nicht gesehen. Und darf natürlich auch nicht mit ihm allein sein. Im Gegenteil: Der Oberkriegsgerichtsrat Dr. Manfred Röder, der von vielen nur der „Bluthund Hitlers“ genannt wird, bemerkt sofort streng: „Ich weise den Strafgefangenen darauf hin, dass bei Besuchen jegliche intime Berührung untersagt ist.“
Daraufhin sagt Dietrich Bonhoeffer: „Wir haben unsere Verlobung öffentlich bekannt gegeben, und ich habe meine Braut noch nicht einmal geküsst.“
Röder erwidert: „Dann tun Sie es. Es sei ausnahmsweise gestattet.“ So findet der erste Kuss des Paares unter Beobachtung statt.

Kennengelernt haben sich Maria von Wedemeyer und Dietrich Bonhoeffer übrigens bei Marias Großmutter. Die energische ältere Dame ist von dem mutigen Theologen, der mit einem Schreib- und Redeverbot belegt wurde, fasziniert und stellt ihm in ihrem Haus einen kleinen Raum zum Arbeiten zur Verfügung.
Dietrich Bonhoeffer ist damals 36 – und eines Tages kommt eben die 18jährige Enkelin der Hausherrin auf einen Besuch vorbei. Maria genießt das Gespräch mit dem klugen Mann, der offen den Faschismus kritisiert und der sie auch interessiert, weil er schon so weit gereist ist: USA, England, Spanien, Schweden. Dietrich hat einen weiten Horizont und lacht auch nicht, als sie ihm erzählt, dass sie viel lieber Mathematik studieren möchte als auf dem Landgut der Eltern zu bleiben.
Vielleicht wäre es bei dieser einen Begegnung geblieben, hätte nicht die Großmutter kurz darauf einen Verkupplungsplan entwickelt: Sie muss nämlich nach Berlin ins Krankenhaus und bittet Maria, ihr dort als Gesellschafterin am Krankenbett zur Seite zu stehen. Tja, und wen lädt die gewitzte Dame auch jeden Tag ein? Genau: den Pastor Bonhoeffer. Und dann fallen ihr ständig Gründe ein, warum sie ihre Gäste bittet, sie doch einen Moment allein zu lassen und lieber ein wenig zusammen spazieren zu gehen. Später wird Maria über diese Krankenhaustreffen sagen: „Da hatte ich Dietrich zum ersten Mal ein bisschen gern.“
Tja, allerdings bekommt bald darauf Marias Mutter Wind von der Sache, sieht nicht nur, dass der tollkühne Pfarrer jederzeit festgenommen werden kann, sondern fürchtet außerdem, dass sich Maria nach dem Tod ihres Vaters kurzerhand einen Vaterersatz gesucht hat. Und so verhängt sie das Kontaktverbot.

Das heißt: Die lebenshungrige Maria besucht nun einen Mann im Gefängnis, den sie schon vor ihrer Verlobung überhaupt nur wenige Male gesehen hat und mit dem sie von einer Zukunft träumen möchte, von der sie nicht weiß, ob sie jemals eintreffen wird. So beginnen die beiden, einander von einem Leben zu erzählen, das sein könnte … dem Leben, das sie gerne miteinander führen würden.
Wobei sich zwischen den Zeilen immer wieder die Frage stellt: Reichen Worte, um eine Beziehung zu führen? Nun, die beiden haben gar keine andere Wahl.

Musik: Michio Mamiya, Five Finnish Folksongs, Nr 3 (Yo Yo Ma + Silk Road Ensemble)

Nachdem Dietrich Bonhoeffer am 5. April 1943 verhaftet und ins Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Berlin-Tegel gebracht worden ist, darf er pro Woche einen Brief an seine Verlobte Maria von Wedemeyer schreiben. Einmal pro Monat darf sie ihn für eine Stunde besuchen … am Ende wird sie 18 mal das Gefängnistor durchschritten haben.
Da die Anklage gegen Dietrich Bonhoeffer sehr schwammig mit „Wehrkraftszersetzung“ umschrieben ist, noch niemand etwas von seiner Beteiligung an Attentatsplänen auf Adolf Hitler weiß und es auch nicht zu einem Gerichtsverfahren kommt, sind die beiden Liebenden anfangs noch voller Hoffnung auf eine baldige Freilassung. Sie bereiten in ihren Briefen die Hochzeit vor, diskutieren angeregt über die Aussteuer, die Gästeliste und die Möbel, die sie anschaffen wollen, und sie versuchen, einander immer neu zu erklären, dass man auch in Briefen echte Gemeinschaft erfahren kann.
Einmal schreibt Maria: „Lieber Dietrich, was kannst Du für schöne Briefe schreiben. Ich bin verliebt in jeden einzelnen Satz, in jeden Kringel deiner Schrift. Wenn ein Brief von Dir kommt, ist es, als säßest Du neben mir und sprächst zu mir, so, wie wir noch nie zusammen sprachen, wie wir aber sprechen werden, wenn wir zusammen sein werden.“
Allerdings: Die Briefe der beiden werden natürlich zensiert, so dass sie viele Themen nur andeuten können. Echte Vertraulichkeit, geschweige denn Intimität ist nicht möglich. Deshalb entwickeln die Liebenden im Lauf der Zeit immer mehr gemeinschaftliche Rituale: Sie lesen zum Beispiel die gleichen Bücher, sie schauen bewusst in den gleichen Sternenhimmel und sie beten zur gleichen Stunde.
Maria malt sogar den Grundriss von Dietrichs kleiner Zelle mit Kreide in ihr Zimmer, um seine Situation nachempfinden … um in Gedanken mit ihm leben zu können. Und sie gewöhnt sich daran, jeden Morgen nach dem Aufstehen Dietrichs Bild zur Hand zu nehmen und mit ihm zu sprechen. Das klingt dann so: „Guten Morgen, Dietrich! Hast du gut geschlafen? Machst du gerade ein fröhliches Gesicht? Denkst du an mich? Hast du mich noch lieb? Freust du dich auf später?“
Irgendwann gelingt es den beiden dann, Briefe an der Zensur vorbei zu schmuggeln. Und plötzlich hört man in den Worten Marias deutlich eine wachsende Verzweiflung. Was wohl auch daran liegt, dass Dietrich Bonhoeffer sich im Gefängnis inzwischen so etwas wie eine kleine Gemeinde aufgebaut hat und sich richtiggehend einlebt. Er betet für die anderen Gefangenen und die Wärter, bekommt Privilegien und wird der gute Geist der Haftanstalt. Einmal schreibt er an Maria: „Du darfst nicht denken, ich sei unglücklich. Was heißt denn glücklich und unglücklich? Es hängt ja so wenig von den Umständen ab, sondern eigentlich nur von dem, was im Menschen vorgeht.“
Das heißt: Obwohl auch Bonhoeffer Momente der Verzweiflung kennt, ist er bereit, seine komplizierte Situation aus Gottes Hand anzunehmen. Er fühlt sich innerlich bei Gott geborgen. So sehr, dass die Menschen um ihn herum verwundert bemerken: Wie macht er das nur? Er erträgt die „Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.“
Ja, Bonhoeffer erwähnt immer wieder, dass ein Mensch, der Gott auf seiner Seite weiß, eine innerliche Freiheit geschenkt bekommt, die stärker ist als alle Gefägnismauern. Und genau diese Gewissheit versucht er, an seine Verlobte Maria von Wedemeyer weiterzugeben. Was der jungen Frau sicherlich nicht leicht fällt. Sie möchte – so klingt es in ihren Briefen an – nicht nur den Trost des Glaubens, sondern auch ganz greifbares Glück erfahren.

Musik: Astor Piazzolla, Tanti anni prima (Isabelle van Keulen Ensemble)

Im Herbst 1944 passiert es: Die Gestapo findet Unterlagen, die eindeutig belegen, dass Dietrich Bonhoeffer an einem Attentat auf Adolf Hitler beteiligt war. Maria ist am Boden zerstört, denn sie ahnt, dass sie ihren Verlobten womöglich niemals leibhaftig in die Arme schließen wird.
Außerdem erlebt sie so etwas wie einen Schock. Einer der Wärter hat nämlich einen halbwegs sicheren Fluchtplan entwickelt: Bonhoeffer soll als Heizungsmonteur verkleidet an den Wachen vorbeigeschleust werden. Das klingt tatsächlich machbar. Doch Bonhoeffer weigert sich. Ja, er weigert sich zu fliehen. Warum? Aus verschiedenen Gründen. Er will seine Mitgefangenen nicht im Stich lassen. Er hat Angst, dass sich die Gestapo an seiner Familie rächt – und weil er es als seine christliche Pflicht empfindet, das Leid der Menschen zu teilen.
Man kann sich nur ausmalen, was Maria von Wedemeyer damals empfunden haben mag: Der Mann, den sie liebt, entscheidet sich gegen eine Flucht, die ihn ja auch endlich zu ihr gebracht hätte. Bonhoeffers große Liebe … ist das überhaupt Maria? Oder ist das eigentlich Gott?
Wenig später ist es zu spät, um noch von Flucht zu träumen. Dietrich Bonhoeffer wird am 8. Oktober 1944 in ein anderes Berliner Gefängnis verlegt, in dem er weder Briefe schreiben darf, noch Besuch empfangen darf. Monatelang hören die beiden Verlobten nichts mehr voneinander.
Kurz vor Kriegsende erreichen Maria dann Gerüchte: Dietrich soll in einem Konzentrationslager sein. Sie macht sich im zerbombten Deutschland auf den Weg, um ihren Verlobten zu finden. Aber sie wird überall abgewiesen. Keiner ist bereit, ihr Auskunft zu geben: Auch nicht im Lager Flossenbürg, wo die Nazis Bonhoeffer am 9. April 1945, wenige Wochen vor der Kapitulation, erhängt haben. Maria erhält diese Nachricht tatsächlich erst nach Kriegsende.
Was der verwirrten jungen Frau bleibt, ist nur ein letzter Brief, den Dietrich kurz vor Weihnachten im Gefängnis verfasst. Darin steht unter anderem das weltberühmte Gedicht „Von guten Mächten“, in dem der Theologe zusammenfasst, warum er in all dem Elend nicht aufgegeben hat: Weil er daran glauben kann, dass Gottes Gegenwart wichtiger ist als die äußeren Umstände: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Musik: Ernset Bloch, Prayer (Sol Gabetta)

Einmal hat Dietrich Bonhoeffer an seine Verlobte Maria von Wedemeyer geschrieben: „Ich liebe dich, solange ich lebe und darüber hinaus.“ Das ist nicht nur ein Zuspruch, das kann auch zum Fluch werden. Denn Maria ist und bleibt nach dem Krieg die ewige Verlobte Dietrich Bonhoeffers.
Zumindest könnte das einer der Beweggründe gewesen sein, warum sie schon bald nach Amerika auswandert, um dort tatsächlich Mathematik zu studieren. Doch auch in der Fremde kann sie sich lange Zeit nicht von ihren prägnanten Erfahrungen lösen. Eine erste Ehe wird geschieden. Wohl auch, weil Maria versucht hat, mit einem anderen Mann so zu leben, wie sie es sich mit Dietrich erträumt hat. Das kann nicht gut gehen.
Die zweite Ehe misslingt ebenfalls. Dabei wollte Maria diesmal alles ganz anders machen als mit Dietrich angedacht. Erst in den Sechziger Jahren dann, als Maria inzwischen erfolgreich Karriere gemacht hat und in Boston wohnt, gelingt ihr ein Befreiungsschlag: Sie veröffentlicht einige der Briefe aus dem Briefwechsel mit Dietrich – und gibt damit das Ganze aus der Hand. Endlich.
Dennoch wird es sie sicherlich bis zum Ende beschäftigt haben, wie Dietrich in der Lage war, sein Leid zu ertragen, ohne zu verzagen. Wie er unter widrigsten Umständen Sätze voller Zuversicht schreiben konnte, die bis heute Menschen stärken und ermutigen.
Hoffnungssätze wie: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“

Musik: Claude Debussy, La Boite à Joujoux (Orchestre National de Lyon unter Jun Märkl)

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