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Alles perfekt...oder?
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Alles perfekt...oder?

Dr. Michael Müller
Ein Beitrag von Dr. Michael Müller, Pfarrer in der Pfarrei St. Jakobus, Hünfeld
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Diesen Reiseführer müssen Sie haben. „Das perfekte Wochenende in Barcelona.“ So steht es schon auf dem Cover. Städtereisen werden immer beliebter. Und wenn SIE in eine große Stadt kommen, ist es gar nicht so einfach, ein gutes Programm zu machen. Das Wichtigste müssen Sie ansehen, erleben. Auch beim Essen wollen Sie nicht reinfallen. Praktische Tipps finden sich auf den letzten Seiten: „Dieses Restaurant ist auch bei Einheimischen beliebt.“ „In diesem Stadtviertel finden sie eine urige Bar, ein echter Geheimtipp“. Und am zweiten Tag gibt es im Museum das berühmteste Kunstwerk der Stadt sehen. Am besten Sie planen schon zuhause. Und, wenn Sie am Montag in der Firma den Kollegen erzählen können, wie super alles war, wäre das doch schön, nein perfekt. Ein perfektes Wochenende. Perfekt ist heute ein wichtiger Begriff geworden. Ich behaupte einmal: Noch nie war unser Lebensumfeld so perfekt wie heute. Uns geht es gut. Und wir streben nach Perfektion. Überall lacht uns das perfekte Leben an. Wir sehen in den Werbeanzeigen das perfekte Auto, die perfekte Inneneinrichtung. Aus dem Perfektionismus ist inzwischen eine Industrie geworden. Aber das ist ja auch gar nichts Schlechtes. Für jede Sportart gibt es den perfekten Schuh, das perfekte Outfit. Wir haben die perfekte Funktionskleidung für jedes Wetter und jede Outdoor-Aktivität, die perfekte App auf dem Smartphone. Und mit den immer neuen Produkten steigen unsere Erwartungen. So legen wir die Latte immer höher, und das auch mit Blick auf unser Leben. Am besten, wenn es perfekt läuft. Der Kindergarten, die Grundschule, das Gymnasium, das Auslandsjahr in Australien, das Studium, der Beruf, die Familie, das Kinderkriegen. So wünschen wir uns das Leben. Allerdings: Was wir von uns erwarten, das erwarten wir auch von anderen. Die Ansprüche, die wir an Institutionen und an die Gesellschaft richten, steigen. Die Schulen, die Autobahnen, die Sportplätze und Schwimmbäder: Perfekt soll die Welt sein, in der wir leben, und auch unser Leben selbst. Ich erlebe das etwa, wenn ich mit einem jungen Paar die Trauung vorbereite. Es ist manchmal fast rührend, an was die Brautleute so alles denken, wie akribisch sie planen. Kein Wunder, es soll ja der ‚schönsten Tag ihres Lebens‘ werden. Die Farbe der Blumen, die Papiersorte des Liedheftchens, Orgelstück am Beginn. Hilfe holen sich viele Brautleute auf verschiedensten Websites, die Tipps für die optimale Abendplanung haben und Links wie „Kuchenplanung perfekt“. Eine tolle Sache. Unsere Welt ist perfekt geworden. Wie war das Wochenende in Barcelona? Alles perfekt, sogar das Wetter. 

Musik: Georg Friedrich Händel, Concerto für Orgel und Orchester Nr. 5 F-Dur, „Allegro“, The English Concert, Dauer: 2:16

Sie kennen vielleicht das Paretoprinzip, benannt nach dem italienischen Ökonomen und Soziologen Vilfredo Pareto (1848–1923). Ein Prinzip, das oft auch die 80-zu-20-Regel genannt wird. Pareto behauptet darin, dass 80 % der Ergebnisse mit 20 % des Gesamtaufwandes erreicht werden. Die verbleibenden 20 % der Ergebnisse benötigen mit 80 % die meiste Arbeit. Sie können beispielsweise ihre Hausfassade einmal im Jahr mit einem Gartenschlauch abspritzen, aber wenn Sie auch die Fugen mit einer Zahnbürste gründlich reinigen wollen, dann merken Sie, was Pareto gemeint hat. Perfektion hat ihren Preis. Wer perfekt sein will, muss einiges leisten, ja, der kommt nicht selten an seine Grenzen. Perfektion kostet Zeit und manchmal Nerven. Und da hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte unsere Gesellschaft verändert. Mir fällt das Bild ein, das sich mir wöchentlich bietet, wenn ich frühmorgens zur ersten Stunde zum Unterricht gehe. Jeden Morgen Verkehrschaos vor der Schule, viele Busse, aber noch viel mehr Autos, in denen besorgte Eltern ihre Kinder zur Schule bringen. Manche bleiben auf einem der raren Halteplätze stehen und beobachten ihr Kind genau, bis es die letzten 200 Meter zurückgelegt hat und nicht mehr zu sehen ist. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einmal zur Grundschule gefahren wurde. Ich bin jeden Tag, Sommer wie Winter allein gelaufen. Heute ist das die Ausnahme. Eltern, die ihre Kinder zur Schule fahren, um sie vor möglichen Gefahren zu schützen, werden zum Problem. Nicht nur wegen der vielen Autos, die die Straße vor der Schule verstopfen, sondern auch für die Kinder, die sich nicht mehr den Herausforderungen eines Schulwegs stellen müssen. „Ab hier können wir alleine gehen“, steht auf Schildern an unseren Schultoren. Ein Versuch, die Eltern zu überzeugen, wenigstens die letzten Meter bis zum Klassenraum ihrem Kind zuzutrauen. Über einen neuen Supermarkt erfuhr ich jüngst: In den ersten Wochen nach der Eröffnung wurde jeden Abend das gesamte Angebot der Obst- und Gemüseabteilung ausgetauscht, das eigentlich noch Genießbare weggeworfen, nur damit am nächsten Morgen alles perfekt aussieht. Krumme Gurken und Karotten – das geht gar nicht. Was für eine Verschwendung, denke ich. Perfektion kostet auch Geld, verschlingt Ressourcen. Aber nicht nur die Natur muss sich den größer werdenden Ansprüchen fügen. Ja, der Mensch in seinem professionellen Umgang mit dem Kunden muss auch perfekt sein, und das wird trainiert. Der Dialog und das Lächeln an der Kasse wird heute eingeübt und ist perfekt: Danke für Ihren Einkauf und einen schönen Tag noch, sagt ein lächelndes Gesicht in hörbar gestelltem Sprachduktus. Und selbst in Orten wie München, wo früher – wie man in Bayern sagt – eine grantige Bedienung fast ein Kulturgut war, das Komiker wie Karl Valentin köstlich einzufangen verstanden, herrscht heute oft der beigebrachte perfekte Umgangston. „Sie sprechen mit Frau Mayer, was kann ich für Sie tun.“ Perfektion kostet nicht selten die Echtheit, die authentische Begegnung. Vielleicht ist unser Streben nach Perfektion ein Grund, warum wir uns immer im Krisenmodus befinden, immer gleich die Welt zusammenzubrechen scheint, wenn etwas nicht perfekt ist. Aber übersehen wir da nicht Wesentliches?

Musik: Carl Philipp Emanuel Bach, Sinfonie h-moll Wq-182/5 (H661) aus den Hamburger Sinfonien, „Larghetto“ Freiburger Barockorchester, Dauer: 3:14

Am 3. Oktober hat unser Land den 28. Tag der Deutschen Einheit gefeiert. Die Festansprache hielt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Er hat eine Bilderbuchkarriere hinter sich, erfolgreiche Ausbildung und Promotion als Jurist, mit 30 Jahren im Bundestag, Minister in verschiedenen Aufgaben, Architekt der deutschen Einheit. Und dann wenige Tage nach der großen Feier der Wiedervereinigung im Oktober 1990 wird er Opfer eines furchtbaren Attentats durch einen psychisch kranken Mann. Eine der Kugeln trifft das Rückenmark, und Schäuble ist seitdem vom dritten Brustwirbel an abwärts gelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Ich glaube, er weiß, wovon der spricht, wenn er auf dem Tag der Deutschen Einheit sagte: … wir sollten … wieder lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben, mit dem Unzulänglichen. So ist der Mensch, so ist die menschliche Gesellschaft. Wer das Perfekte anstrebt, endet in der Diktatur. Es braucht mehr Gelassenheit.

Bei allem Streben nach Perfektion - Wenn wir ehrlich sind, gibt es so vieles in unserem Leben, auf das wir keinen Einfluss haben. Dinge, die manchmal wie ein Felsblock plötzlich auf dem Weg liegen und die wir bis eben nicht im Blick hatten und die uns – manchmal mit Wucht – sagen: Dein Leben ist nicht perfekt. Und Du musst lernen, „mit dem Nicht-Perfekten zu leben“. Die Unzulänglichkeiten manchmal auszuhalten. Mit diesen Unzulänglichkeiten ist nicht unbedingt ein Schicksalsschlag gemeint. Es reicht manchmal schon der Teller, den der Ehemann zum Missfallen seiner Frau morgens einfach stehen lässt. Oder der Autoschlüssel, den sie nicht an den vereinbarten Platz gelegt hat und der am nächsten Morgen nicht aufzufinden ist und dadurch die ganze Familie in ein kleines Chaos stürzt.

Musik: Carl Philipp Emanuel Bach, Sinfonie c-moll Wq-43/4 (H474 aus den Hamburger Sinfonien, „Allegro assai“ Freiburger Barockorchester, Dauer: 4:26

Das Wort perfekt – so sagen es die Sprachwissenschaftler – ist im 16. Jahrhundert aus dem lateinischen Begriff „perfectus“ abgeleitet worden, was so viel heißt wie „vollendet, vollkommen“. In einem alten christlichen Glaubensbekenntnis heißt es an einer Stelle über den menschengewordenen Gottessohn Jesus „Perfectus Deus, perfectus homo“, vollkommener Gott, vollkommener Mensch. Gibt es das überhaupt? Für die Christen der ersten Jahrhunderte, die auf Konzilien über die Frage gerungen haben, wer denn dieser Jesus von Nazareth sei, war klar: Er ist der perfekte Mensch. Es war wohl eher der Versuch, diesen Jesus als Gottessohn darzustellen. Als den neuen Menschen, wie sich Gott ihn gedacht hat. Aber, wenn ich auf diesen Jesus aus Nazareth schaue, dann ist sein Leben alles andere als perfekt. Jesus ist ja nicht nach einer Bilderbuchkarriere an Altersschwäche gestorben, sondern wie ein Verbrecher zum Tod verurteilt worden. Mit den Mächtigen über Kreuz geraten, ist er einsam am Kreuz gestorben. Alles andere als perfekt. Den ersten Christen war das peinlich. Die Götter, die die Welt bis dahin kannte, waren perfekt. Man muss sich nur einmal eine griechische Götterfigur anschauen. Perfekt in weißen Marmor gehauen. Mit Paulus und den Aposteln, den Jüngern und Jüngerinnen Jesu, beginnt die Kirche zu lernen, dass Gott es wagt, nicht perfekt zu sein. Das ist für mich das Faszinierende an Jesus: Schon zu Beginn seiner Tätigkeit wählt er keine perfekten Menschen aus, ihm nachzufolgen. Den Zauderer Petrus oder Maria Magdalena. Er kehrt bei dem Betrüger Zachäus ein, und lässt sich von einer stadtbekannten Prosituierten die Füße küssen. Und diese Menschen sind begeistert von Jesus, nicht nur weil er eine große Zuneigung ihnen hat, zu Menschen, die nicht perfekt sind, sondern weil sie in der Begegnung mit ihm etwas Neues erfahren. Weil die Begegnung mit ihm verwandelt. Auch die Kirche hat sich oft für perfekt gehalten. Es ist gut, dass sie in diesen Wochen erkennen muss: Sie ist es nicht. Wir müssen nicht perfekt sein. Wenn wir das, was wir tun, mit Liebe tun, wenn wir den Mitmenschen mit offenem Herzen begegnen. Dann verändert sich etwas zum Guten. Stück für Stück. Und da ist für uns Christen Gott selbst am Werk. Mitten in unserer immer perfekteren Lebenswelt erlaube ich mir die Frage: Muss ich, muss meine Welt perfekt sein? Ich glaube nicht, ich bin vielmehr überzeugt: Es gibt Dinge, die nicht im Reiseführer stehen, Begegnungen, die man nicht planen kann. Unser Lebensweg ist manchmal eben nicht perfekt ausgeschildert. Da gibt es Sackgassen und schwierige Stellen. Ich darf auch zu meinen Fehlern stehen und wenn nötig um Vergebung bitten, Vergebung erfahren. Und ich finde: Das entlastet. Und als Christ bin ich dankbar, an einen Gott glauben zu dürfen, der mich annimmt, ohne perfekt zu sein. Bei einem Theologen fand ich den Satz. Denn Gott sagt zum Menschen nicht: Du musst zuerst anders werden, damit ich dich annehmen kann. Sondern weil er ihn annimmt, kann der Mensch anders werden, gibt es einen Weg nach oben. Ich meine: Wenn Gott das kann, können wir das auch. In diesem Sinne wünsche ich ihnen einen schönen Sonntag, auch wenn er vielleicht nicht perfekt wird. 

Musik: Georg Friedrich Händel, Concerto für Orgel und Orchester Nr. 5 F-Dur, „Presto“, The English Concert, Dauer: 2:12

Musikauswahl: Regionalkantor Thomas Wiegelmann, Bad Orb

 

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