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Über den Riss, durch den das Licht kommt

Über den Riss, durch den das Licht kommt

Dr. Barbara Brüning
Ein Beitrag von Dr. Barbara Brüning, Katholische Journalistin, Autorin und Systemische Familienberaterin, Frankfurt

Meine Freundin Annette Blandiniere ist Künstlerin. Es ist noch nicht lange her, da hat sie ihre alten Kunstwerke aufgeräumt. Ein Bild hat sie sofort durchgerissen und wollte es wegtun. Beim zweiten Blick, hat es ihr dann schon wieder Leid getan. Vielleicht war sie doch vorschnell gewesen? Und so hat sie es – wie Künstler manchmal so sind - einfach wieder zusammen geklebt. An der Stelle, wo der Riss war, da hat sie Blattgold aufgetragen. Ganz dick. „Der Riss“, sagt sie, „steht für die Beziehung, die damals kaputt gegangen ist, als ich das Bild gemalt habe. Die Wunde von damals ist geheilt. Ich bin über mich hinaus gewachsen. Genau an diesem Riss bin ich stärker geworden.“ Und tatsächlich: hier geht das Bild nach oben, in eine neue Dimension.

„Es gibt einen Riss in allen Dingen, durch den das Licht scheint“, singt Leonhard Cohen. Ich finde, auch der Sonntag ist so eine Art Riss, der unser alltägliches Schaffen und Herumwuseln mal für einen Tag zur Ruhe bringt. Er durchbricht unsere alltäglichen Muster.

Ich versuche am Sonntag, wenn möglich, mich der Langeweile hinzugeben. Mir kommen die besten Ideen, wenn ich gar nichts Besonderes tue. Mein Gefühl ist, dass in den spontanen Einfällen, die mir dann kommen, so eine Art göttlicher Zeigefinger auftaucht. Eben das Licht, das einfällt, wenn das Alltagsmuster einen Riss bekommt.

Meine Freundin Annette wusste übrigens nicht, dass auch die Japaner Risse mit Gold reparieren. Diese Technik verwenden sie für Teeschalen. Das heißt dann Kintsugi. Damit wird der Makel betont und der Riss wird zum Teil eines neuen Musters. Es kommt nur darauf an, wohin wir unsere Aufmerksamkeit lenken. Ich lasse sie heute einfach schweifen – mit einer schönen  Tasse Tee in der Hand, die noch keinen Riss hat.

Und vielleicht kommt an diesem Sonntag, diesem Riss durch die Woche, von irgendwoher eine neue Idee und ein goldenes Licht zu mir.

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