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Straße der Hoffnung
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Straße der Hoffnung

Stefan Claaß
Ein Beitrag von Stefan Claaß, Evangelischer Pfarrer und Professor, Theologisches Seminar Herborn

Immer noch Ostern. Ein zweiter geschenkter Feiertag. Mit welcher Hoffnung schauen Sie auf diesen Ostermontag? Schauen Sie in den Himmel und hoffen auf gutes Wetter? Vielleicht haben Sie ja einen Ausflug geplant. Schauen Sie auf den Familientisch und hoffen, dass es keinen Streit gibt? Es ist gar nicht so einfach, gut miteinander auszukommen, wenn mehrere Feiertage aufeinander folgen.

Vielleicht tragen Sie aber auch viel größere Hoffnungen mit sich herum: dass Sie inneren und äußeren Frieden finden mit sich und mit anderen? Wovon hängt es ab, ob Sie hoffen können – und wie stark? Wie geht das: Hoffen? Und was passiert, wenn ich sie einmal verloren habe, meine Hoffnung?

Ich möchte Sie mitnehmen auf einen Osterspaziergang, der zuerst gar keiner war. Eine Tagesreise, hoffnungslos trist am Anfang. Ein Weg, der zu neuer Hoffnung führt. Mit Anteilen von Wunder, von Vernunft und von vertrauten Erfahrungen. Folgen Sie mir also 2000 Jahre zurück an den Stadtrand von Jerusalem. Da ist ein Mann, der heißt Kleopas. Kleopas trifft sich mit einem Freund. Sie wollen weg, raus aus der Stadt.

Hier ist drei Tage vorher ihr Freund Jesus von Nazareth qualvoll am Kreuz gestorben. Die allgemeine Aufregung in der Stadt hat sich etwas gelegt, das Schauspiel der Kreuzigung ist vorbei. Aber Kleopas und sein Freund sind innerlich noch ganz aufgewühlt. Der Schrecken und die Trauer sitzen ihnen in den Knochen. Sie gehen los Richtung Emmaus, das ist ein Dorf gut elf Kilometer von Jerusalem entfernt. Man braucht also fünf, sechs Stunden zu Fuß. Auf dem Weg müssen sie alles noch einmal durchsprechen, so sehr treibt sie um, was sie erlebt haben. Ein Dritter gesellt sich zu den beiden. Er ist ihnen fremd, aber er geht einfach neben ihnen her, im gleichen Tempo, hört ihnen zu. Er fragt nach: Was erzählt ihr denn da?

Die beiden können es nicht fassen: Ganz Jerusalem redet über nichts Anderes als über die Kreuzigung des Jesus aus Nazareth, und du fragst, was los ist? Sie schildern ihre Sicht der Dinge und sie erzählen, wie mit Jesus zuletzt auch ihre eigene Hoffnung gestorben ist.

„Wir hofften“, sagen sie, „wir hofften, er werde Israel erlösen.“ Wäre ich an Kleopas´ Stelle gewesen, ich hätte vielleicht gesagt: wir hofften, er werde die Welt aus ihrem Schlamassel retten. Ja, das jiddische Wort Schlamassel trifft es ganz gut. Eine Mischung aus Unglück, Pech, eigenen Fehlern, Krise. „Wir hofften“, sagt Kleopas und gibt zu verstehen: damit ist es vorbei. Nach drei Tagen ist klar: tot ist tot. Hier könnte das Gespräch zu Ende sein. Könnte. Ist es aber nicht. Lassen Sie uns nach der Musik noch ein Stück mitgehen Richtung Emmaus.

Ein Mann namens Kleopas, sein Freund und ein Fremder sind nach der Kreuzigung von Jesus auf dem Weg nach Emmaus, eine Tagesreise weg von Jerusalem. Ich gehe im Geist mit den dreien mit. Kleopas erzählt: Seine Hoffnung ist gestorben. Er hatte gehofft, Jesus werde die Welt aus ihrem Schlamassel retten. Doch Jesus ist tot.

Ich kann mich in Kleopas gut hineinversetzen. Auch wenn ich eine starke Hoffnung begraben muss, kann ich sie nicht so einfach loslassen. Ich muss das noch einmal in Worte fassen, muss mein Herz ausschütten und meinen Verlust beklagen. Einen Moment bleibe ich stehen: ist das wirklich gut für mich? Zieht es mich nicht noch mehr hinunter, wenn ich das alles noch einmal erzähle? Aber dann merke ich: im Gegenteil, es tut mir gut, alles rauszuhauen, wo mein Hoffen an ein Ende gekommen ist.

Meine eigene Geschichte der verlorenen Hoffnung beginnt mit einem Besuch bei Freunden im letzten Jahr. Wir kennen uns schon über dreißig Jahre, haben Reisen unternommen, Weihnachten gefeiert, Cognac getrunken und Kamillentee, uns über Kollegen aufgeregt und viel gelacht. Was man mit Freunden halt alles so teilt. Ich hatte gehofft, wir könnten später im Ruhestand mal zusammen wohnen. Im Mai starb der Freund. Seine Frau, die anderen Freunde und ich hatten gehofft, er könne noch eine Weile bei uns bleiben. Er starb und mit ihm die Hoffnung auf Zusammenwohnen im Ruhestand. Das wäre meine Geschichte, die ich auf dem Weg nach Emmaus erzählen würde. Es würde noch einmal wehtun, aber ich wäre auch froh, dass wir miteinander laufen, da geht es besser mit dem Erzählen.

In der Originalgeschichte aus der Bibel geht dieser Fremde mit. Und dann fängt er selber an zu erzählen. Was er im Einzelnen redet, wird nicht überliefert. Jedenfalls handelt es davon, dass Gott einen längeren Atem hat als der Tod. Leben ist für Gott mehr als die Spanne zwischen erstem und letztem Atemzug. Und der Fremde erweist sich als Freund, indem er nicht nur beipflichtet: ach wie schrecklich! Sondern er mischt Kleopas, seinen Begleiter und auch mich ganz schön auf. „Toren“ nennt er uns, Einfaltspinsel, Einbahnstraßenfahrer. Warum? Weil wir nur unserer bisherigen Erfahrung vertrauen. Warum sind eure Herzen und Gedanken zu träge, fragt er, zu träge, sich auf etwas Neues einzulassen? Er tut mir gut, dieser Fremde. Wenn ich meine Hoffnung verloren habe, brauche ich jemanden, der mich herausfordert, befragt, der mir Mut macht, Mut zu neuer Hoffnung. Es mag sein, dass die Hoffnung zuletzt stirbt. Aber sie steht auch als erste wieder auf. Jedenfalls hier auf dem Weg nach Emmaus. Nicht die alte Hoffnung, sondern eine neue. Eine, die etwas taugt. Da darf ich zunächst auch skeptisch sein, das gebe ich gern zu. Ich will keine vorschnelle Begeisterung. Ich halte nichts davon, leichtgläubig und naiv durchs Leben zu wandern. Der Weg nach Emmaus ist keine Kurzstrecke, sondern eine Tagesreise.

Wie könnte meine eigene neue Hoffnung aussehen, wenn ich an meinen Freund denke, dessen früher Tod viele gemeinsame Pläne und Hoffnungen zerstört hat? Jetzt, wo die Trauer noch weh tut, hoffe ich ganz schlicht, dass seine Frau, dass die anderen und ich mit seinem Tod leben können. Dass wir es müssen, weiß ich. Aber dass wir es können, dass wir nicht nur traurig sind, dass die Beziehung trotz des Todes eine Zukunft hat: das hoffe ich.

Wie kann eine Beziehung zu jemandem, der gestorben ist, Zukunft haben? Meistens behelfen wir uns eher mit Erinnerungen. Vielleicht hoffen wir, damit jemandem am Leben zu halten. Das ist mir, ehrlich gesagt, zu wenig.

In Todesanzeigen lese ich immer wieder: „Wir werden uns immer an dich erinnern. Nur wer vergessen wird, ist tot.“ Ich verstehe die Absicht. Sie ist ehrenvoll. Aber eigentlich stimmt es mich traurig, dass Menschen, die zwei Wochen tot in ihrer Wohnung gelegen haben, auch wirklich sofort tot sind, weil sich niemand an sie erinnert. Viele von uns und ich werden dann ab der übernächsten Generation tot sein, weil alle Erinnerungen verblassen. Und dann werde ich richtig sauer, wenn ich denke, dass ausgerechnet furchtbare Diktatoren wie Hitler und Stalin nie sterben sollen, weil sich die Menschheit an diese elenden Gestalten erinnert, ob sie will oder nicht.

Ostern öffnet eine ganz neue Sichtweise. Eine andere Art von Beziehung als nur das Erinnern. Welche das ist, das klärt sich auf dem Weg nach Emmaus. Das ist ein Dorf bei Jerusalem. Dorthin geht nach der Kreuzigung von Jesus ein Mann namens Kleopas mit einem Freund. Ein Fremder gesellt sich zu ihnen. Als die kleine Wandergruppe am Abend endlich ankommt, sagt Kleopas zu dem Fremden: Bleib bei uns, es will Abend werden, der Tag neigt sich. Sie kehren ein, setzen sich an den Tisch.

Der Fremde nimmt das Brot und teilt es mit den anderen. So hat das Jesus früher getan. Da gehen Kleopas und dem anderen die Herzen und die Sinne auf. Sie erinnern sich nicht nur an Jesus. Sondern sie erleben ihn in diesem Moment neu. Anders, aufregend, gegenwärtig. Jesus ist auferstanden, sie sehen ihn neben sich.

Ein Wunder? Ja, ich glaube, es ist immer ein Wunder, wenn uns klar wird, dass der Tod nicht die letzte Wahrheit im Leben ist. Ich glaube zutiefst, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Gewiss, er hat ein Wörtchen mitzureden in meinem Leben. Aber er hat nicht das letzte Wort. Im Falle meines Freundes ist das gemeinsame Leben vorbei. Ich glaube, dass er bei Gott angekommen ist. Und darum hoffe ich, dass etwas Neues beginnt – anders als bisher.

Ich habe durch Erfahrung gelernt, dass ich mit dem Tod leben muss. Und ich habe in meinem Gottvertrauen gelernt, dass ich mit dem Tod leben kann.

Zurück nach Emmaus. Dort sitzen Kleopas, sein Freund und ich denke mich mit an ihren Tisch. Wir teilen das Brot mit dem, der uns zuerst fremd war. Jetzt, am Tisch hat er sich zu erkennen gegeben als der, der den Tod besiegt hat. Jesus ist auferstanden, er ist hier, ganz nah, gibt uns das Brot und sagt: Hier, für dich!

So wie wir da sitzen, sagt in der Bibel der Evangelist Lukas, plant Gott die Zukunft jenseits aller Todesmächte. Da werden kommen von Norden und Süden, von Osten und Westen. Und alle sitzen zu Tisch im Reich Gottes. Alle werden zusammen vom gleichen Brot essen. Aus Sibirien und Fritzlar, aus dem Sudan und aus Michelstadt, aus Nordkorea, Hanau, Halifax und Herborn. Vielleicht werden wir lachen über den Tod – so wie wir jetzt schon lachen über scheinbar Mächtige, die sich selbst für so wichtig und unverzichtbar halten.

Ein großes Gelächter. Und dann stoßen wir an auf Jesus, geboren in Bethlehem. Das heißt auf Deutsch: Brothausen. Wenn Sie heute an Ihrem Tisch leckeres Brot teilen und mit anderen anstoßen, hoffe ich, dass Sie damit zugleich auch neue Hoffnung für Ihr Leben schmecken. Nicht nur heute, am Ostermontag, sondern morgen auch und an jedem neuen Tag, den Gott Ihnen schenkt.

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