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Durch das Meer der Angst
Bild: Jan Vasek/Pixabay

Durch das Meer der Angst

Hermann Trusheim
Ein Beitrag von Hermann Trusheim, Evangelischer Schulpfarrer, Hanau
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Seit der Corona Krise ist "Homeschooling" angesagt, für manche Jahrgänge immer noch. Mit "Beschulung zu Hause" ist das ein wenig holperig übersetzt und lässt bestenfalls erahnen, was das alles bedeutet. Schulkinder bleiben zu Hause. Eltern auch. Und die Lehrer. Es sind aber keine Ferien, es ist "Homeschooling".

Alles anders in dieser Zeit: Eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Für die Kinder zuerst: sich die Zeit einteilen, um die Aufgaben zu erledigen, überhaupt – erstmal an die Aufgaben kommen, die Aufgaben richtig verstehen, und dann die Lösungen zurückschicken. Eltern müssen motivieren, manchmal kontrollieren, und nicht selten sich selbst informieren. Nur so können sie ihren Kindern oft beistehen und helfen. Für die Lehrer gilt: verständliche Aufgabenstellungen entwerfen, nicht überfordern, aber fördern, und nicht selten selbst digitales Neuland erkunden.

Da wird die Geduld aller auf die Probe gestellt, ein unfreiwilliger Stresstest ist das allemal. Hoffentlich gibt’s das aber auch: Erfolgserlebnisse, Erfahrungsgewinn, Solidarität aller Betroffenen.

Ich bin Schulpfarrer, unterrichte Evangelische Religion an einem Gymnasium. Ich habe mich gefragt: Wie kann ich der Herausforderung "Homeschooling" gerecht werden?

In den Jahrgängen fünf und sechs gehört die Geschichte Israels zu den Unterrichtsthemen. Mose ist die zentrale Figur der Geschichte Israels. Manches über Mose haben wir schon im Unterricht bearbeitet. Jetzt sollen die Schülerinnen und Schüler zu Hause eine Biographie von Mose schreiben.

Ich hoffe, so vertieft sich nicht nur Wissen über Mose. Und ich wünsche mir, dass durch die selbst geschriebene Geschichte eine Verbindung zu den biblischen Erzählungen entsteht – dass in den biblischen Erzählungen die eigene Geschichte wiederentdeckt wird.

Als Grundlage gebe ich die Texte aus dem Unterricht an und verweise auf Kinderbibeln und ausgewählte Kapitel aus dem 2. und 5.Buch Mose. Bibeln sind in den meisten Häusern vorhanden – immer noch! - die Texte gibt es aber auch im Internet.

Damit die Aufgabe auch handschriftlich erledigt werden kann, habe ich darum gebeten, mir die Ergebnisse mit der Post zu schicken.

Dann wurde es spannend – was kommt da zurück? Fast sechzig Briefe habe ich bekommen. Manchmal mit einem netten Begleitschreiben. Da stand zum Beispiel, es war durchaus spannend und interessant, sich auf "Bibelentdeckung" zu begeben. Eltern und große Geschwister wussten auch was dazu. Klar brauchte es auch Zeit, das alles aufzuschreiben, aber durchs Aufschreiben merkt es sich auch besser.

Natürlich waren die Ergebnisse unterschiedlich. Manche haben recht knapp berichtet und auch mal Geschichten weggelassen. Manche haben sehr ausführlich in Einzelheiten Moses Biographie aufgeschrieben. Aber es wurde deutlich, welche Geschichte allen im Gedächtnis geblieben ist: Der "Durchzug durchs Schilfmeer". Die Rettung aus dem Meer der Angst.

Und das hat seinen Grund.

Die Rettung der Israeliten ist das zentrale Ereignis der Geschichte Israels. Zwar gelingt den Israeliten die Flucht aus Ägypten, aber die Truppen des Pharaos setzen ihnen nach. Am Schilfmeer holen sie die Israeliten ein. Die hören schon das Quietschen der Räder der gefürchteten Streitwagen. Es ist klar – es wird zu einem Massaker kommen, und die Ägypter werden wieder mal die Sieger sein.

Doch es kommt ganz anders. Gott hilft. Er befiehlt Mose, seinen Stab über das Meer zu recken. Und die Wasser teilen sich. Die Israeliten ziehen hindurch. Links und rechts steht das Wasser wie eine Mauer. Als die Israeliten auf der anderen Seite ankommen, reckt Mose wieder seinen Stab, und das zurückflutende Wasser ertränkt alle Ägypter. Die Israeliten jubeln – Gott hat sie vor übermächtiger Gefahr gerettet.

"Das gibt’s doch nicht!" sagte Marco sofort, als ich die Geschichte im Unterricht noch vor der Corona-Zeit erzählt habe. "Das ist unmöglich – Wasser, das wie Mauern steht!"

"Genau, das ist unmöglich," habe ich geantwortet. "Aber es hat seinen Grund, dass die Geschichte so erzählt wird."

Dann haben wir zusammen die Geschichte im 2.Buch Mose nachgelesen. Und wir haben entdeckt: Es gibt drei Versionen vom "Durchzug durchs Schilfmeer". In der ältesten Fassung wird gar nicht erzählt, wie die Rettung abläuft. Da geht es nur darum, dass die Israeliten Gott für die Rettung danken. Später hat man zur Erläuterung ein Naturphänomen herangezogen, das manchmal auch heute noch am Mittelmeer zu beobachten ist: Ein starker Wind treibt das Wasser aus einer Bucht – der "großen Syrte" - zurück, so dass man trockenen Fußes den langen Weg am Ufer abkürzen kann. Legt sich der Wind, strömt das Wasser sofort zurück. Wer dann noch in der Bucht unterwegs ist, ertrinkt. Aber werden die Israeliten dann nicht nur durch einen Zufall gerettet? Die dritte Version der Geschichte versucht, diesem Eindruck entgegen zu wirken. Israel verdankt seine Rettung einer Tat Gottes, die die Naturgesetze aufhebt, einer Unmöglichkeit, die nur der allmächtige Gott bewirken kann: Wasser steht wie Mauern.

Im Bibeltext sind alle drei Versionen eng miteinander verbunden, aber man erkennt noch immer die Unterschiede, wenn einmal vom Ostwind und im Vers darauf von den Wassermauern erzählt wird.

"Die Geschichte Israels wird mit Geschichten erzählt." Das versuche ich meinen Schülern verständlich zu machen. In Geschichten kommt es darauf an, die Botschaft unbedingt zu vermitteln. Wenn "Unmögliches" erzählt wird, heißt das nicht, dass die Geschichten falsch sind, sondern, ihre Botschaft soll entdeckt werden: Gott hilft. Gott rettet. Das ist die Botschaft der Geschichte vom Durchzug durchs Schilfmeer. Und damit jeder auch die Botschaft hört, wird die Geschichte so erzählt, dass alle sie vernehmen. – "Wenn ihr einen Film drehen würdet, welche Version würdet ihr nehmen?" habe ich meine Schüler gefragt. "Natürlich die mit den Wasser-Mauern, die ist spannend und gibt tolle Bilder," das meinte auch Marco.

"Die Geschichten der Bibel sind auch unsere Geschichten" mit dieser Aussage habe ich den nächsten "Unterrichts-Schritt" vorbereitet. "Sie sind dazu da, mich selbst in den Geschichten wieder zu erkennen. Dann kann ich die Erfahrungen aus den Geschichten in mein Leben aufnehmen. Das machen wir jetzt mit dieser Geschichte: Schreibt auf, was euch Angst macht."

Dann folgte die Aufforderung: "Die Blätter mit der Angst legen wir vor uns aus und stellen uns dahinter. Dann stehen wir vor dem Meer der Angst. Und manche Ängste, die man gar nicht aufschreiben mag, verfolgen einen, sitzen einem im Nacken. – Wie die Ägypter hinter den Israeliten und das unüberwindbare Meer vor ihnen."

Es folgte ein spannender Weg: Ich nahm einen Stock und fegte die Blätter vor mir auseinander. Alle gingen wir durch das "Meer der Angst". Und am Ende jubelten wir.

Wir haben die Erfahrung nachvollzogen: So ist das mit der Angst. Sie bleibt mir nicht erspart. Sie ist da. Manchmal verfolgt sie mich unerbittlich. Es gibt keinen Weg daran vorbei. Aber es gibt einen Weg hindurch. Gott will mir dabei helfen. Ich werde die Angst durchschreiten mit Gottes Hilfe.

Ich habe mich sehr gefreut, dass viele Schüler den "Zug durchs Schilfmeer" in ihrer eigenen Mose Biographie "Der Weg durch das Meer der Angst" genannt haben. 

In der Corona-Zeit möchte ich auch durch mein persönliches "Meer der Angst" kommen und dabei auf Gottes Hilfe vertrauen.

Die Geschichten der Bibel sind auch meine Geschichte. In dieser Zeit fällt mir Vieles aus der Mose Geschichte ein, was ich mit eigenen Erfahrungen und Empfindungen verbinden kann.

Wie die Israeliten der Schreckensherrschaft des Pharaos fühle ich mich manchmal ausgeliefert. Wie Mose möchte ich gern manchmal den Helden spielen und bin es aus eigener Kraft doch nicht.

Ich frage mich in dieser Zeit: "Um welches "goldene Kalb" tanze ich eigentlich manchmal – welche Götzen lasse ich mein Leben bestimmen?" Mir fallen die zehn Gebote ein – gute Regeln zum Leben; Gott leitet sie mit der Aussage ein: "Ich habe dich aus Ägyptenland, aus der Sklaverei befreit".

Ich hoffe nicht, dass unsere Wanderung durch die Corona-Krise so lange dauert wie Israels Weg durch die Wüste. In all‘ dem, was mir Angst macht, ist mir die Zusage Gottes wichtig: Wir werden im gelobten Land ankommen.

"Homeschooling mit der Bibel" – das ist nicht nur eine Aufgabe für Schüler, das tut auch dem Relilehrer gut. Und vielleicht auch Ihnen.

 

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