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An die Hand nehmen, trösten, Mut zusprechen
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An die Hand nehmen, trösten, Mut zusprechen

Andrea Seeger
Ein Beitrag von Andrea Seeger, Evangelische Theologin
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Das Hochwasser im Ahrtal ist jetzt gut drei Monate her. Es hat dort – und nicht nur dort – Wohnungen zerstört, Betriebe, Straßen, Brücken, die Eisenbahnlinie. Nichts funktioniert mehr. Es wird Jahre dauern, eine neue komplette Infrastruktur aufzubauen. Finanzielle Hilfen waren schnell beschlossen. Aber es geht nicht allein um Geld.

Die Seele der Betroffenen ist in großer Not

Die Seele der Betroffenen ist in großer Not. Und wer könnte die Leidtragenden dieser Verwüstung außer Psychologen besser unterstützen als Pfarrerinnen, Pfarrer sowie ausgebildete Notfallhelferinnen und -helfer? Sie sind zahlreich in den zerstörten Gebieten unterwegs, aus vielen Teilen Deutschlands kommen sie zusammen. Doch es können gar nicht genug Trösterinnen und Tröster im Einsatz sein bei so viel Elend.

Die Betroffenen beginnen meist erst lange nach dem eigentlichen Ereignis zu begreifen. Und wie bei jeder Trauer um einen Verlust sind alle Reaktionen erst einmal normal: Das können Erkältungs- oder grippeähnlichen Symptome sein, die Menschen können nicht schlafen, sind matt und müde. Die Gefühle reichen von großer Wut über tiefe Traurigkeit und Depression bis zur totalen Verunsicherung. Die Nebenwirkungen können lange spürbar bleiben.

Notfallseelsorger uns Notfallseelsorgerinnen versuchen langfristig zu helfen

Was kann da helfen? Erfahrene Notfallseelsorger sagen: Sich bewegen, seine Gewohnheiten beibehalten, auf vertraute Rituale setzen. Enorm wichtig ist für Menschen, die sich ohnmächtig vorkamen, dass sie sich wieder als selbstwirksam erfahren. Sie müssen das Gefühl bekommen, als Betroffene wieder Einfluss zu haben auf ihr Leben und die Dinge, die passieren.

Es braucht nicht nur Jahre, um eine neue Infrastruktur aufzubauen. Auch die beschädigte Psyche braucht Jahre behutsamer Begleitung. Seelsorgerinnen und Seelsorger der Kirchen bleiben dran. Sie versuchen ihr Bestes, um den Leuten beizustehen.

Musik

Es gibt vier Stufen der Hilfe

Wie sieht eine behutsame Begleitung aus in Notfällen? Einfach da sein, Präsenz zeigen, mitleiden – das ist es, was die Menschen in Katastrophen zuallererst brauchen. Das ist auch die Erfahrung von Eberhard Hoppe. Der Pfarrer koordiniert die Notfallseelsorge im Lahn-Dill-Kreis. Zwei Mal war er mit einem Team von Seelsorgerinnen und Seelsorgern im Überflutungsgebiet im Einsatz. Er unterteilt die Arbeit in vier aufeinanderfolgende Abschnitte.

Einfach da sein, Präsenz zeigen, mitleiden

Da-Sein ist die erste Stufe. Mit den Menschen zusammen den Schmerz aushalten, darum geht es am Anfang. Christen seien ja nicht vor Schicksalsschlägen gefeit, niemand bleibt davon verschont, sagt Hoppe. An Gott glauben heißt nicht: Ich bleibe immer von allem Übel verschont. Glauben heißt: Ich fühle mich auch in schwerer Zeit von Gott gehalten. Der Pfarrer bekennt: Es war manchmal so schlimm, dass auch er keine Worte gehabt hätte.

Sprechen

Das Sprechen kommt ohnehin erst in einer zweiten Stufe. Auf dieser Ebene haben Hoppe die Worte des Propheten Jesaja (43,2a) geholfen: „Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen.“ Diesen Bibelvers habe er in verschiedenen Gesprächen verwendet und damit den Menschen Trost gespendet. Es komme vor allem darauf an, den Menschen zu sagen: „Du bist nicht allein in deiner Not – ich will bei dir sein!“

„Was können wir für Sie tun?“

Eine dritte Stufe ist die praktische Ebene: Pfarrer Hoppe fragt die Menschen: „Was können wir für Sie tun?“ Sie benennen unterschiedliche Dinge – eine nächste Mahlzeit, ein Dach über dem Kopf, etwas Passendes zum Anziehen oder sie fragen, ob er weiß, wie es der Bekannten oder dem Freund geht. Der Wunsch nach einem Bagger war auch schon dabei, erzählt der erfahrene Seelsorger. Es war für ihn das erste Mal, dass er ein solches Gerät besorgt hat. Er sagt: “Man muss kreativ sein und auch mal andere Wege gehen“.

Die neue Normalität, die nichts mit dem Davor zu tun hat

Dann kommt eine letzte Stufe, die vierte. Damit meint er die neue Normalität – die nichts, aber auch gar nichts mit dem Davor zu tun hat. Was das neue Normal ist, darüber gleich mehr.

Musik

Was ist das neue Normal?

Was ist das neue Normal? Am ehesten ist es ein Zurechtfinden in einer plötzlich sehr veränderten Welt, wo wenig noch so ist, wie es einmal war. Worauf kann sich der Einzelne verlassen? Worauf hat jemand gebaut? Der Notfallseelsorger Eberhard Hoppe war die letzten Monate im Überflutungsgebiet. Er sagt: Die Katastrophe macht deutlich, welche Werte jemand hat. Er kennt viele Beispiele dafür.

Die Katastrophe macht deutlich, welche Werte jemand hat

Im Haus eines Familienvaters reichte das Wasser bis unter die Decke der Zimmer im ersten Stock. Der Vater kämpfte sich die Treppe hoch. In der Dachstube hockte seine Frau mit den beiden Kindern. Er jubilierte: „Ich bin der glücklichste Mann der Welt“. Das Haus samt Inventar war zerstört. Seine Familie aber hat überlebt. Das ist für ihn das Wichtigste.

Für manch anderen bricht wegen eines Hauses die Welt zusammen. So wie bei dem Weinhändler-Ehepaar, 80 und 83 Jahre alt. Der Mann ist in dem Haus geboren, sie haben ihr ganzes gemeinsames Leben dort verbracht. Sie gehen da nicht raus, sagen sie. Lieber möchten sie sterben. Aber das Haus ist nicht mehr bewohnbar, sie müssen dort ausziehen. Da braucht es Menschen, die den beiden Mut zusprechen, sie an die Hand nehmen, ihnen beistehen, sie trösten.

Der gesamte Lebensentwurf ist plötzlich über Bord geworfen

Sehr vielen Menschen in den Überflutungsgebieten ist nicht nur die Vergangenheit abhandengekommen. Sondern auch die nahe Zukunft. Der gesamte Lebensentwurf ist plötzlich über Bord geworfen. Das ist eine Situation, die sich wohl die meisten Menschen nicht vorstellen können. Auch ich kann das nicht. Aber eins weiß ich: In dieser Situation braucht es viel Beistand und Trost.  

Es braucht viel Beistand und Trost

Was ist das eigentlich, Trost? Etwas, das ich mir nur schlecht selbst geben kann. Ich kann ihn aber von anderen annehmen. Wann brauche ich Trost? Wenn ich mich klein fühle, wenn etwas anderes zu groß erscheint: eine Aufgabe, eine Verpflichtung oder andere Menschen. Wenn mich etwas bedrückt. Wenn mir etwas Angst macht. Wenn ich mich gedemütigt fühle, hilflos und allein gelassen. Wenn ich das Gefühl habe, der Boden, auf dem ich vorher gut und sicher gestanden habe, wird mir unter den Füßen weggezogen, und ich falle. Dann wünsche ich mir einen, der mich hält, auf den ich mich verlassen kann.

Das Wort Trost kommt aus derselben Wurzel wie das englische „trust“: Vertrauen. Wir vertrauen darauf, dass wir uns aufeinander verlassen können. Dadurch entsteht ein Fundament. Etwas, das Halt gibt. Für mich ist das der Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“. Diese uralten Worte beten. Das hilft. Sich verbinden mit den unzähligen Menschen, die dieser Psalm schon getröstet hat.

Mutmacher und Mutmacherinnen werden auch gebraucht

Und Mutmacherinnen helfen auch. Notfallseelsorger Eberhard Hoppe erzählt am allerliebsten von einer Dame um die 90. Ihr resolutes Statement angesichts des Schreckens lautet: „Ich habe zwei Weltkriege überlebt, drei Wirtschaftskrisen überstanden, das hier kriegen wir auch noch hin.“ Wer so reagiert, kann Menschen ermutigen. Und das haben die Menschen in den Hochwassergebieten mindestens so nötig wie Trost.

Und genau dafür sind die Seelsorgerinnen und Seelsorger im Einsatz. Sie nehmen die Menschen an die Hand, trösten sie und sprechen ihnen Mut zu - dem Weinhändlerpaar zum Beispiel, das nicht aus einem Haus ausziehen will, es aber dennoch tun muss: Sie schaffen das! 

Dutzende Sonderstellen für Notfallseelsorgerinnen und – seelsorger werden eingerichtet

Die Kirchen wissen, wie wichtig die Arbeit der Frauen und Männer ist. Deshalb werden sowohl in der evangelischen als auch der katholischen Kirche Dutzende Sonderstellen für Notfallseelsorgerinnen und – seelsorger eingerichtet. Sie sind angedockt an die Gemeinden vor Ort und werden mit Psychologen und Psychotherapeuten zusammenarbeiten. Ihr Ziel ist es, die Menschen zu trösten und zu ermutigen, ganz im Sinne des Propheten Jeremia: „Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein!“

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