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Ein Blick enthüllt
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Ein Blick enthüllt

Anne-Katrin Helms
Ein Beitrag von Anne-Katrin Helms, Evangelische Pfarrerin, Erlösergemeinde Frankfurt-Oberrad
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In meiner Yoga-Gruppe haben wir Partnerübungen gemacht. Normalerweise ist jeder allein auf seiner Matte und macht mit geschlossenen Augen die Übungen. Aber dieses Mal haben sich alle paarweise einander gegenübergesetzt. Wir streckten die Arme aus, so dass sich die Handflächen berühren. Dann sollten wir uns drei Minuten lang in die Augen schauen. Drei Minuten. Das ist gefühlt eine Ewigkeit.

Ich schaue also in die Augen meines Gegenübers. Form und Farbe, die Augenbrauen. Wann blinzelt sie? Der Mundwinkel, leicht lächelnd. Die Falten. Was sie heute alles erlebt hat? Ob sie sich wohl fühlt? Ich mag das Gesicht. Es ist freundlich. Nah, aber nicht distanzlos. Es ist schön, dieses Gesicht anzuschauen und dafür Zeit zu haben. Dann wird mir bewusst: Nicht nur ich schaue. Mein Gegenüber sieht ja auch mich an. Die Erkenntnis macht mich unruhig. Was sieht sie an mir? Sieht sie auch in mich rein?

Jetzt ist mein Vertrauen gefragt! Glaube ich ihr, dass sie Wohlwollen für mich hat? Lasse ich sie in meinem Gesicht lesen oder verschließe ich mich? Ich habe mich entschieden, mich dem Blick meines Gegenübers zu öffnen. Ungewohnt war es schon, aber nicht unangenehm. Ich habe mich ein bisschen wie nackt gefühlt. Geschämt habe ich mich dabei nicht. Angeschaut werden, das ist eigentümlich schön. Die sozialen Hüllen, die ich mir im Alltag zulege und die mich schützen, haben keine Rolle mehr gespielt. Nur mein Gegenüber und ich waren da. Pur. Unmittelbar.

Die Passionsgeschichte in der Bibel erzählt davon, wie Jesus seinen Jünger Petrus anschaut. Drei Minuten werden es nicht gewesen sein. Die beiden kannten sich gut. Ein kurzer Blick hat da vermutlich genügt.

Jesus wusste: Petrus hat ihn verleugnet. Ausgerechnet Petrus, der immer sein treuester Freund sein wollte. Aber nachdem die Soldaten Jesus verhaftet haben, hat jemand Petrus gefragt: „Du bist doch auch einer von denen! Du gehörst doch auch zu diesem Jesus.“ Es stimmt. Petrus ist einer von denen. Aber jetzt soll das niemand wissen. Petrus hat Angst. Er will nicht mit hineingezogen werden. Er verleugnet ihre Freundschaft.

Plötzlich ist Jesus da. Er wird dicht an Petrus vorbei geführt. Bevor sie ihn zum Prozess ins Gebäude bringen, dreht sich Jesus noch einmal um. Sein Blick sucht Petrus. Er schaut ihn an. Ich vermute, dieser Blick war für Petrus gefühlt eine Ewigkeit. Alles ist in diesem Blick: Angst, Traurigkeit, Erbarmen, Wohlwollen, Verständnis. Liebe. Der Blick trifft Petrus ins Herz. In der Bibel steht: Er geht hinaus in die Nacht und weint bitterlich.

Ein Blick kann enthüllen. Das Gute an einem Menschen und das, was er falsch gemacht hat.

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