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Der Fischer und seine Frau
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Der Fischer und seine Frau

Vera Langner
Ein Beitrag von Vera Langner, Evangelische Pfarrerin, Ober-Ramstadt
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Eigentlich sind Grimms Märchen Geschichten für Erwachsene. Aber wir bekamen schon als Kinder immer daraus vorgelesen, aus dem dicken Märchenbuch.

Wir hörten gerne zu. Fieberten jedes Mal neu mit, wenn Rotkäppchen dem bösen Wolf begegnete oder Hänsel und Gretel der heimtückischen Hexe. Manche Geschichten wollten wir immer und immer wieder hören. Bei aller Aufregung ging es doch am Ende jedes Mal gut aus, jedenfalls für die Guten.

So wurden sie Begleiter meiner Kindheit, die Zauberer und Hexen, die Zwerge und Prinzessinnen und all die Tiere aus der Märchensammlung der Gebrüder Grimm.

Die Märchen der Gebrüder Grimm wieder entdecken

Später gerieten diese Geschichten bei mir in den Hintergrund. Das dicke Buch mit den Gesammelten Werken der Gebrüder Grimm landete in irgendeinem Bücherregal. Meinen eigenen Kindern habe ich nicht mehr daraus vorgelesen. Es gab ja inzwischen so viele neue und schöne und buntbebilderte Kinderbücher.

Aber im letzten Jahr habe ich es wieder hervorgeholt, fand es zwischen vielen anderen wegelegten Büchern und freute mich, dass es noch da war.

Das Märchen vom Fischer und seiner Frau

Ich suchte das Märchen: Vom Fischer und seiner Frau. Es war mir nur noch vage in Erinnerung. Ich wusste aber noch, dass ich mich als Kind immer gefragt habe, warum Erwachsene so dumm sein können. Sie hatten alles, was sie sich wünschten und waren nie zufrieden, wollten immer noch mehr, obwohl sie schon so viel hatten.

Und ich weiß noch, wie ich jedes Mal dachte: Wenn doch der Fischer nicht immer nur gemacht hätte, was sein Frau wollte, dann hätten die beiden glücklich und zufrieden leben können bis ans Ende ihrer Tage. Dann wäre die Geschichte doch noch gut ausgegangen.

Aber so endete sie jedes Mal niederschmetternd. Weil die Frau vom Fischer immer mehr wollte, sogar Papst werden wollte und am Ende sein wollte wie Gott, ging alles verloren. Und sie saßen am Ende wieder in ihrem alten Topf, wie es im Märchen heißt. In meiner kindlichen Vorstellung war das eine dunkle Hütte gewesen mit Holzbrettern, durch die der Wind pfiff.

Die Frage nach immer mehr Wachstum wird heute neu gestellt

Ich habe mich an das Märchen erinnert, weil die Frage nach immer mehr Wachstum neu gestellt wird. Weil wir neu darüber nachdenken, was und wieviel wir Menschen eigentlich brauchen und wohin sich die Welt entwickelt.

Ich bin überzeugt: Das Märchen aus längst vergangenen Tagen hat eine Botschaft, die gerade heute wichtig ist. Sie hat auch was mit meinem Glauben zu tun. In der Bibel geht es darum, wie heilsam es ist, wenn ein Mensch ein Mensch bleibt. Und Gott Gott. Ich glaube, das alte Märchen kann neu inspirieren.

Musik: Jean Francaix, aus: L'Horologe de Flore Geranium Triste (Albrecht Mayer, Academy of St Martin in the Fields)

Das Märchen fängt harmlos an mit Alltagsroutine

Das Märchenbuch der Gebrüder Grimm enthält eine Geschichte, die ich neu lese: Von dem Fischer und seiner Frau. Wie war das mit der Frau, die am Ende sein wollte wie Gott? Warum war sie so dumm, sich so etwas zu wünschen? Es fing ganz harmlos an.

Es war einmal ein Fischer und seine Frau, die wohnten zusammen in einem alten Topfe, dicht an der See, und der Fischer ging alle Tage hin und angelte; und er angelte und angelte. So saß er auch einst bei der Angel und sah immer in das klare Wasser hinein; und er saß und saß.

Alltagsroutine. Man geht seiner Beschäftigung nach in aller Ruhe, Tag für Tag. Es passiert nichts Aufregendes, aber alles hat seine Ordnung. So war das Leben früher oft. Und auch heute noch gibt es das. Menschen finden in einer täglichen Routine Schutz und Geborgenheit. Es bleibt alles, wie es ist.

Der sonderbare Fisch aus der Tiefe

Aber dann geht die Angel eines Tages tiefer hinunter bis auf den Grund. Gedanken tauchen auf: Es könnte doch noch mehr geben im Leben. Eine Sehnsucht meldet sich aus der Tiefe: Das kann doch nicht alles gewesen sein. Das Leben muss doch noch mehr zu bieten haben. Und dann hängt er plötzlich am Haken, der sonderbare Fisch:

Hör einmal Fischer, ich bitte dich, lass mich leben, ich bin kein rechter Fisch, ich bin ein verwunschener Prinz. Was hilft es dir, wenn du mich totmachst? Ich würde dir doch nicht schmecken; setze mich wieder ins Wasser und lass mich schwimmen.“

„Nun“, sagte der Mann, "du brauchst nicht so viele Worte zu machen; einen Fisch, der sprechen kann, hätte ich so schon schwimmen lassen.“ Damit setzte er ihn wieder ins klare Wasser; da ging der Fisch auf den Grund und ließ einen langen Streifen Blut nach sich.

Eine bemerkenswerte Begegnung. Der eine hängt gefangen am Haken, der andere hat alle Macht über ihn, könnte einfach dem Fisch auf den Kopf schlagen und hätte für diesen Tag eine Mahlzeit.

Aber stattdessen begegnen sich die beiden voller Respekt. Und dann geht jeder wieder seine Wege. Die Blutspur des einen bleibt sonderbar rätselhaft.

Der Fischer erzählt an diesem Tag seiner Frau, was geschehen ist. Und bei der Frau regt sich sofort die Abenteuerlust und die Sehnsucht nach mehr. Von so einem verwunschenen Prinzen sollte man sich doch was wünschen können. Zumal man ihm doch großzügig das Leben geschenkt hat.

Wünsche werden geweckt

Aber der Fischer weiß gar nicht, was er sich wünschen könnte. Nur seine Frau hat ganz konkrete Vorstellungen: Eine bessere Behausung wäre doch was. Ein kleines, aber feines Häuschen mit einer netten Einrichtung, und ein paar Hühner und Enten vielleicht, und einen kleinen Garten mit Obst und Grünzeug. Ja, das wäre wirklich wunderbar.

Der Mann weiß nicht so recht, wie er das anstellen soll, aber schließlich geht er, gedrängt von seiner Frau, wieder ans Wasser und ruft:

Manntje, Mantje, Timpe Te,
Fischlein, Fischlein in der See,
meine Frau, die Ilsebill,
will nicht so, wie ich gern will.“

Die Spirale von Habgier und Machthunger beginnt

Diese sonderbaren gereimten Worte waren mir aus Kindertagen noch in Erinnerung. Irgendwie klang es geheimnisvoll wie eine Zauberformel. Und der Fisch war ja auch wie ein Zauberer. Denn im Handumdrehen war das Häuschen Wirklichkeit. Und die Freude darüber war groß bei beiden.

Aber sie blieb nicht lange. Schon nach acht oder vierzehn Tagen haben sich neue Wünsche eingestellt, so erzählt es das Märchen. Ein steinernes Schloss wäre doch noch viel schöner als dieses mickrige Häuschen. Und so beginnt sie, die Spirale von Habgier und Machthunger.

Denn als die Frau das Schloss hat mit all seiner Pracht, ist schon über Nacht der Wunsch erwacht, Königin zu sein. Und als sie Königin ist, will sie Kaiserin sein und als sie Kaiserin ist will sie Papst werden.

Der Fischer hat Bedenken

Das Märchen schildert diese Entwicklungen mit dramatischen Veränderungen im Wasser. Die klare See wird immer dunkler und aufgewühlter. Der Mann wirkt immer verzweifelter, kann aber der Gier seiner Frau nichts entgegensetzen. Geht immer wieder hin, wiederholt gebetsmühlenartig seinen Spruch und erlebt, wie alle Wünsche trotz seiner Bedenken in Erfüllung gehen.

Was er selbst will, findet dagegen keine Beachtung. Er macht immer nur, was die andere will. Er merkt: Es ist falsch, was ich tue. Doch er tut es trotzdem. Vielleicht einfach nur, um seine Ruhe zu haben?

Musik: Bedrich Smetana, The Fisherman (Slovak Radio Symphony Orchestra unter Robert Stankovsky)

Zufrieden ist in dieser Geschichte vom Fischer und seiner Frau am Ende niemand. Die dramatischen Veränderungen überstürzen sich; immer mehr, immer schneller, immer großartiger wird alles. Aber was soll man sich noch wünschen, wenn man schon alles hat?

Die Gier wird unermesslich

Gier kann zur Sucht werden. Am Ende will sie sein wie Gott, will über die Sonne und die Sterne bestimmen und das Leben im Griff haben mit all seiner Unverfügbarkeit.

Der Fischer hat dem nichts entgegenzusetzen. Und obwohl er ganz genau weiß, dass es so nicht weitergehen kann, bleibt er in seinem eingefahrenen Lebensmuster, geht immer und immer wieder in der gleichen Weise seinen ausgetretenen Weg zum Wasser und erlebt, wie die Natur sich immer mehr bedrohlich verändert, am Ende in hellem Aufruhr um ihn herum tobt:

Draußen aber ging der Sturm und brauste, dass der Fischer kaum auf den Füßen stehen konnte. Die Häuser und die Bäume wurden umgeweht, und die Berge bebten, und die Felsen rollten in die See, und der Himmel war ganz pechschwarz, und es donnerte und blitze, und die See ging in hohen schwarzen Wellen wie Kirchtürme und wie Berge und hatten alle oben eine weiße Schaumkrone auf. Da schrie er und konnte sein eigenes Wort nicht hören.

Und er schreit ein letztes Mal seine immer gleiche Parole gegen alle Vernunft:

Manntje, Manntje, Timpe te,
Fischlein, Fischlein in der See,
meine Frau, die Ilsebill,
will nicht so, wie ich gern will.“

„Nun, was will sie denn?“ fragte der Fisch wie immer. „Ach“, sagte der Mann, sie will werden wie der liebe Gott.“ – „Geh nur hin, sie sitzt schon wieder in ihrem alten Topf.“
Dort sitzen die beiden noch bis auf den heutigen Tag.

Warum sind Erwachsene so dumm?

So endet das Märchen der Gebrüder Grimm vom Fischer und seiner Frau. Kein gutes Ende.

Als Kind war ich immer ratlos und verärgert am Ende. Wie konnten die Erwachsenen so dumm sein? Sie hatten alles, was man sich nur wünschen konnte und sind doch nie zufrieden, wollen immer schneller immer noch mehr. Das konnte doch nicht gut gehen.

Und dazu passte der Satz, den mein Vater manchmal sagte: Bäume wachsen nicht in den Himmel.

Musik: Leos Janáćek, aus: Suite Allegretto (Slovak Radio Symphony Orchestra unter Libor Pešek)

Bäume wachsen nicht in den Himmel. Ja, natürliches Wachstum ist begrenzt. Und deshalb setzt die Natur Grenzen. Das erlebt die Menschheit auf diesem Planeten gerade aktuell.

Das alte Märchen erzählt davon. Wer die natürlichen Grenzen der Schöpfung und des Schöpfers respektlos überschreitet, wird am Ende alles verlieren. Schon als Kind erlebte ich, wie sich in mir bei diesem Märchen der Widerstand regte: Wie können die Erwachsenen nur so dumm sein?

Wünsche haben ist wichtig

Heute bin selbst lange erwachsen: Ich weiß, es ist gar nicht so einfach mit dem rechten Maß und mit dem Zufrieden-Sein. Wünsche haben und sie äußern können, das ist ja wichtig.

Wachsen und gedeihen und groß werden soll jedes Kind, und auch Erwachsene dürfen sich weiter entwickeln, immer wieder Neues lernen, ihre Gaben und Begabungen entfalten. Wir sollen unsere Talente nutzen und unsere Gaben investieren, mit dem anvertrauten Gut gewinnbringend wirtschaften. Jesus selbst hat davon erzählt. Er empfiehlt in einem Gleichnis, anvertraute Gaben nicht zu vergraben sondern zu vermehren.

Es ist gut, Wünsche zu haben. Es ist wunderbar, wenn der eine oder andere Wunsch in Erfüllung geht. Nur gibt es beim Wünschen eine Falle. Wir können hineinfallen und gefangen sein in dieser Spirale, die zum Teufelskreis werden kann: Immer mehr, immer schneller, immer selbstverständlicher, so als hätten wir einen Anspruch darauf, dass es uns immer besser geht.

Dadurch verliert sich dann die Freude über das Wunderbare auch immer schneller. Niemand staunt mehr über den, der so großzügig gibt.

Musik: Bedrich Smetana, Andante aus Suite from Smetana's Sketch Book (Slovak Radio Symphony Orchestra unter Robert Stankovsky)

Die innere Leere durch Wünsche füllen

Vielleicht hätte der Fischer seine Frau mal mit hinausnehmen sollen ans Wasser. Dann hätten sie gemeinsam gesehen, wie sich das zunächst klare Wasser bei all ihren Wünschen immer mehr verfärbte, erst grün und gelb, dann violett, danach wurde es schwarzgrau und roch ganz faulig. Schließlich wurde es schwarz und dick und begann von innen zu gären, warf Blasen und wurde immer aufgewühlter.

Hätte die Frau diese Entwicklungen gesehen und erlebt, vielleicht hätte sie erkannt, dass das Wasser ein Spiegelbild ihres Lebens war.

Der Versuchung widerstehen

Wäre mit dem Reichtum und der Macht auch ihre Liebe zueinander immer reicher und größer geworden, hätten sie sich vielleicht gegenseitig noch helfen können. Aber so wurde die Einsamkeit immer größer auf jeder Seite. Die Wünsche sollen eine innere Leere füllen.

Das ist die Versuchung, die zur Sucht werden kann. Niemand ist davor sicher. Selbst Jesus von Nazareth hat diese Versuchungen erlebt. Reichtum, Ehre und Macht sollte er bekommen. Jesus hat abgelehnt. Denn der Preis wäre gewesen, Gott zu vergessen und die Liebe zu verraten. Jesus hat der Versuchung widerstanden. Er wünschte sich stattdessen von Gott:

Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute.

Jesu Wünsche an Gott

So heißt es im grundlegenden Gebet der Christen, dem Vaterunser. Das Jesus weitergegeben hat auf die Frage, was wir beten sollen. Also um das tägliche Brot. Dazu gehörten für Jesus auch gute Beziehungen zwischen den Menschen. Deshalb lautet sein nächster Wunsch an Gott im Gebet:

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Jesus war realistisch, Er wusste, dass das Leben voller böser Verlockungen und Versuchungen sein kann. Deshalb war sein Wunsch, dass Gott uns in allen Versuchungen leiten sollte, dass wir der Versuchung nicht erliegen. Dass wir widerstehen können und uns bewusst wird: Gott will Gutes für alle. Deshalb heißt der letzte Wunsch im Vaterunser so:

Und führe uns nicht in Versuchung sondern erlöse uns von dem Bösen.

Wünsche können sich verändern

Wenn Wünsche zum Gebet werden, wird Gott nicht vergessen. Für mich ist das eine Hilfe, um beim Wünschen nicht in die Falle zu geraten. Wenn Wünsche nicht nur die eigene Leere füllen sollen, sondern andere mit in den Blick kommen, verändern sich die Wünsche mit der Zeit. 

Ich habe den Fischer und seine Frau der Brüder Grimm besser verstanden beim neuen Lesen. Sie zeigen mir menschliche Versuchungen, die weder mir noch anderen fremd sind.

Aber immer noch wünsche ich mir, wie damals als Kind: Ich will nicht so dumm sein, immer nur immer mehr zu wollen, ohne mich darüber freuen zu können. Ich will nicht vergessen, dankbar zu sein. Ich will auch nicht immer nur machen, was andere wollen und mich selbst und die Vernunft wichtig nehmen.

Ich möchte mir die Meere anschauen und das Wasser und das Wetter. Ich will die Zeichen der Zeit erkennen. Was ich als gut und heilsam erkannt habe, möchte ich auch tun, gemeinsam mit anderen.

Gern Mensch sein und menschlich bleiben, darum geht es

Letztlich geht es darum, nicht werden zu wollen wie Gott, mich nicht an Gottes Stelle zu setzen. Sondern gern Mensch zu sein und dabei menschlich zu bleiben. Dazu will ich auf Gott hoffen und Jesus vertrauen. Die alten Geschichten der Bibel sagen mir, das würde sich lohnen. Und das Märchen der Gebrüder Grimm erinnert in eindringlichen Bildern und wunderbarer Sprache daran. 

Meine Wünsche brauche ich nicht zu vergessen. Ich weiß: Wenn Wünsche zum Gebet werden, wird Gott nicht vergessen, mein Nächster nicht und ich auch nicht.

Musik: Komitas Vardapet, Noubar-Noubar (Pia Greev, Johan Fostier, Matthias Kläger, Luc Vander)

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