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16 Alles auf Anfang – warum es sich lohnt immer wieder neu anzufangen
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16 Alles auf Anfang – warum es sich lohnt immer wieder neu anzufangen

Dr. Michael Müller
Ein Beitrag von Dr. Michael Müller, Pfarrer in der Pfarrei St. Jakobus, Hünfeld
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"Alles auf Anfang!", ruft der Regisseur am Ende einer komplizierten Szene den Schauspielern zu. Irgendetwas hat nicht gestimmt. Einer hatte den falschen Text, ein Kameramann war im Bild oder die Beleuchtung stimmte nicht. "Alles auf Anfang!" - was beim Film zu einfach möglich ist, das ist im wirklichen Leben meistens viel schwieriger. Da ist etwas schief gegangen, ich bin gescheitert, die Sache ist nicht so gelaufen, wie ich mir das ausgedacht habe, und jetzt, jetzt müsste ich eigentlich rufen "alles auf Anfang". Aber geht das so einfach?

Gerade jetzt in der Coronakrise, mitten in der dritten Welle, die an unsere Nerven zehrt, steckt in vielen die Sehnsucht, dass alles wieder normal wird. Veranstalter und Künstler sehen sich am Ende ihrer Existenz, Einzelhandelsgeschäfte und Unternehmer sitzen auf ihren Waren, Familien fällt die Decke auf den Kopf, weil die Kinder nicht mehr zu bändigen sind, ohne Schule und Kindergarten, ohne das Treffen mit den Freunden und den Nachbarn. Und viele sind auch von der Krankheit direkt betroffen, haben Angehörige verloren oder leiden am Long-Covid-Syndrom. Wie wäre das so schön, wenn sie rufen könnten: Alles auf Anfang.

Zu schön, um wahr zu sein? Wenn ein Projekt gescheitert ist, eine Beziehung zerbrochen ist, wenn wir vor eine Wand gelaufen sind, dann können wir nicht so einfach neu anfangen. Wir sind ja nicht wie eine Filmkamera, in der wir die letzte Szene einfach löschen können und neu auf den Aufnahmeknopf drücken. Wir tragen unsere Geschichte mit. Das Leben hat Spuren in uns hinterlassen, in unserer Erinnerung, in unserer Seele und auch in unserem Körper. Wir tragen so manche Narbe an uns und auch in uns. All das formt uns. Auch wenn es in manchen Situationen oder gerade auch jetzt schön wäre, einfach zu sagen: Alles auf Anfang.

Musik:  Hörbar Ökumenisch Orgelmusik aus Hessen – Improvisation zu "Veni creator"

"Im Anfang", mit diesen Worten beginnt die Bibel. Sie beschreibt die Schöpfung als einen Neuanfang. Da gibt es einen Gott, der etwas Neues anfängt, der eine wunderbare Idee hat von einer Welt, die sozusagen Spiegel seiner Schöpferkraft, ja mehr noch ein Spiegel seiner Liebe ist. Es ist ein gewagter Neuanfang. Ein Neuanfang mit den Menschen, die antworten können auf diese Liebe. Wenn sie in der Bibel blättern und lesen, werden sie viele Geschichten von Neuanfängen finden. Die Bibel ist ein Buch, das immer wieder vom Neuanfang erzählt. Alles auf Anfang. Das, was uns Menschen nur schwer möglich ist, bringt die Bibel mit Gott in Verbindung. Die uralten Geschichten etwa von Noah und der Arche, vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten oder von Abraham, sind solche Geschichten von einem neuen Anfang. Diese Geschichten machen Mut, denn sie sagen: Auch dann, wenn es schwierig ist und alle äußeren Anzeichen dagegen sprechen, gibt es Menschen, die einen neuen Anfang gewagt haben. Und zwar im Vertrauen auf ihren Gott, der ihnen sozusagen Flügel verliehen hat. Einen Gott, in dessen Kraft sie Dinge getan haben, die sie wohl vorher nicht für möglich gehalten haben. Der Anfang einer dieser großen Geschichten der Bibel ist die Geschichte von Abraham, jene Geschichte, die Christen, Juden und Muslime verbindet. Dort heißt es:

In jenen Tagen sprach der Herr zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen … Und Gott führte Abraham hinaus und sprach: Sieh doch zum Himmel hinauf und zähl` die Sterne, wenn du sie zählen kannst! Und er sprach zu ihm: So zahlreich werden deine Nachkommen sein.

Soweit Abrahams Geschichte. Eigentlich unmöglich, hätte Abraham antworten können. Im Grunde hat er sein Leben gelebt. Er ist ein alter Mann. Und jetzt? Wegziehen in ein anderes Land? Noch einmal Kinder haben? Zum Segen für alle Geschlechter der Erde werden? Abraham hätte allen Grund gehabt, abzuwinken. Suche jemand anderes, lieber Gott. Das wird sowieso nichts.

Musik: Brahms – Geistliche Chormusik - Unsere Väter hofften auf dich  

Das wird sowieso nichts. So lautete das Urteil vieler Berater, als Papst Franziskus vor einiger Zeit den Entschluss fasste, in den Irak zu reisen und jenen Ort zu besuchen, an dem die Geschichte Gottes mit Abraham ihren Anfang nahm. Als es im März dieses Jahres so weit war, sprachen eigentlich alle äußeren Zeichen dafür, die Reise abzusagen. Die Sicherheitslage war unübersichtlich und im Irak herrschte die Pandemie. Aber Franziskus ließ sich nicht beirren. Er wollte ein Zeichen setzen. Ein Zeichen für einen neuen Anfang. Die Reise sollte ein Impuls sein für den Dialog der drei großen Religionen, für die Abraham als Urvater steht. Und der Papst wollte auch die christliche Gemeinschaft im Irak mit seinem Besuch stärken. Die gemeinsamen Wurzeln von Juden, Christen und Muslimen und die christliche Tradition im Zweistromland, dafür stehen die Städte Ur und Karakosch, in denen Franziskus wichtige Begegnungen hatte. Die Christen haben dort Furchtbares mitgemacht. Im August 2014 waren die Truppen der Terrorgruppe "Islamischer Staat" in Karakosch im Norden des Irak eingefallen. Bis dahin war Karakosch die größte christliche Stadt im Irak. Die Flucht der Menschen vor dem IS war dramatisch. Hals über Kopf mussten die Christen die Stadt verlassen, um ihr Leben zu retten. Nichts konnten sie mitnehmen. So ging es Zehntausenden in der Ninive-Ebene bei Mossul. Diese Region, die seit den Tagen der frühen Kirche christliches Siedlungsgebiet war, sozusagen das christliche Herz des Irak, war für die Christen zur Hölle geworden. Als nach mehr als zwei Jahren die erlösende Nachricht kam, dass die Ninive-Ebene vom IS befreit war, wagten sich die ersten Christen zurück. Doch was für ein Anfang! Ihr Zuhause gab es nicht mehr. Mehr als ein Drittel der Häuser und die Kirchen in Karakosch waren zerstört – niedergebrannt, zerbombt, geplündert. Seitdem arbeiteten sich die Menschen in Karakosch und in der Ninive-Ebene unermüdlich zurück ins Leben. Sie wagen einen neuen Anfang mitten im Chaos. Die Christen im Irak machen mir Mut. So schwierig die Lage auch ist, wo Menschen füreinander einstehen, wo Menschen sich getragen fühlen von ihrem Glauben, da ist ein neuer Anfang möglich. Natürlich, wir Menschen haben keine Reset-Taste. Wir können unser Leben nicht wie bei einem technischen Gerät sozusagen auf Werkseinstellungen zurücksetzen. Ich glaube aber, das braucht es auch nicht. Ob Abraham wusste, dass sein Anfang zu einer der größten Geschichten für gleich drei Religionen wird?

Musik: Weimar, Köthen & Leipzig (Organ Works) –  Wer nur den lieben Gott lasst walten

Zurück zu Papst Franziskus Besuch im Irak. Auf seiner Reise begegnete der Heilige Vater vielen Menschen, die mitten im Chaos neu angefangen haben. Zwei davon sind Dawood Ara, eine Christin, und Hasan Salim, ein Muslim. Ohne sich von den Spannungen und Unterschieden entmutigen zu lassen, sind die beiden als Freunde ihren Weg gemeinsam gegangen. Die beiden Jugendlichen arbeiten zusammen in Teilzeit in einem Bekleidungsgeschäft in Basra, um ihr Studium zu finanzieren. "Obwohl Dawood und ich nicht der gleichen Religion angehören, zeigt unsere Geschichte, dass wir zusammenarbeiten und Freunde sein können", sagte Salim, als sie dem Papst ihre Geschichte vorstellen durften. Eine Geschichte eines neuen Anfangs, der Mut macht. Auch hier in unserem Land sehnen sich viele nach einem neuen Anfang. Sie vielleicht auch? Sie haben Zweifel? Eines ist sicher: Einen Anfang haben Sie heute schon gemacht. Sie haben einen neuen Tag begonnen. Sie haben ihr Radio eingeschaltet und hören die Morgenfeier. Sie feiern den Sonntag. Den Tag, der an den Anfang erinnert, den Gott mit uns Menschen gemacht hat. Den Anfang der Schöpfung, an die der Sonntag erinnert. Er gilt ja nach jüdischer Tradition als der erste Tag der neuen Woche. Für Christen ist es ja auch der Tag eines neuen Anfangs. Der Tag der Auferstehung, der Tag von Ostern, der Tag eines neuen Anfangspunkts. Der Tag, der uns sagt, selbst im Tod gibt es einen neuen Anfang. Wenn wir ehrlich sind, dann besteht unser Leben aus vielen, oft ganz kleinen Anfängen. Anfänge, die oft viel wichtiger sind als die großen, die in den Geschichtsbüchern stehen. Diese Anfänge können vielfältig sein. Eine Fortbildung bringt mir neue Erkenntnisse. Nach einer Krankheit finde ich zurück ins Leben. Ich mache endlich die Diät, die ich mir vorgenommen habe. Nach vielen Jahren höre ich mit dem Rauchen auf. Ich rufe jemanden an, von dem ich lange nichts gehört habe. Ich beende einen Streit, von dem ich vielleicht gar nicht mehr weiß, wer angefangen hat.

Alles auf Anfang. Gott sagte zu Abraham: Sieh doch zum Himmel hinauf und zähl` die Sterne, wenn du sie zählen kannst! Es tut gut, manchmal den Blick zu weiten. Auf all das Große und Schöne zu schauen, das uns umgibt, das uns geschenkt wird, und das wir im Alltag so oft übersehen. Wenn Sie in diesen Frühlingstagen erleben, wie die Natur einen neuen Anfang wagt, die Bäume und Pflanzen zum Leben erwachen und die Natur zum Blühen bringen, dann können Sie vielleicht auch darin erahnen, dass es sich lohnt, immer wieder neu anzufangen.

Musik: Die kompletten Werke (J. S. Bach) – Concerto G-Dur BMV 1049 Allegro

Musikauswahl: Regionalkantor Christopher Löbens, Hünfeld

 

 

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