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Wo man daheim ist
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Wo man daheim ist

Dr. Ulf Häbel
Ein Beitrag von Dr. Ulf Häbel, Evangelischer Pfarrer, Laubach-Freienseen
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„Ich wohne im schönsten Haus des Dorfes“. Das hat ein Mann gesagt, der in unserem Dorf gelebt hat und kürzlich im Alter von 65 Jahren gestorben ist. Wie kam er dazu, das zu sagen? Die Geschichte ist schnell erzählt. Es gab im Dorf, wie in vielen Dörfern des Vogelsberges, leer stehende Häuser. Direkt gegenüber der Kirche waren ein Bauernhaus und die angrenzende Schmiede seit Jahren unbewohnt. Kaputte Dachrinnen, bretterverschalte Fenster, herausgefallene Fachwerkteile führten zu dem Urteil: ein Schandfleck mitten im Dorf.

Es hat sich ein Verein gegründet, der aus diesem heruntergekommenen Areal einen Ort der Begegnung machen wollte. Das hat auch geklappt. Seit zwei Jahren gibt es in diesen denkmalgeschützten Häusern einen Dorfladen. Da kann jeder einkaufen, was er zum täglichen Leben braucht. Es gibt eine Tagespflege, in der tagsüber alte Menschen zusammen sind statt daheim alleine zu sein. Einmal in der Woche ist ein Landarzt da, der die Menschen betreut und zum Leben ermuntert. Und es gibt ein paar altersgerechte Wohnungen, barrierefrei mit dem Fahrstuhl erreichbar.

Von außen betrachtet ist dieses Haus mit seinem restaurierten Fachwerk ein Schmuckstück geworden. So sehen das die Leute. Und deshalb hatte der Mann recht: „Ich lebe im schönsten Haus des Dorfes.“ Leider hat er nur zwei Jahre dort gewohnt.

Als er einzog, war er körperlich und gesundheitlich eingeschränkt. Auch sein äußerliches Ansehen hat manchen gestört; etwas ungepflegt mit wilder Haartracht sah er aus. „Unseren Rübezahl“ haben ihn manche genannt.

Tagsüber saß er oft am Fenster, winkte vorbeifahrenden Autofahrern zu oder redete mit Leuten, die vorbeikamen. Irgendwie gehörte er aber zum Leben mitten im Dorf dazu – so wie er war.

Das Laufen fiel ihm krankheitsbedingt schwer, und seine kleine Wohnung sauber zu halten auch. Übermäßiger Alkoholkonsum verstärkte die Misere. Aber so war er nun mal und wir im Dorf haben ihn respektiert.

Er war hier daheim und musste nicht in ein entfernt gelegenes Altersheim. Hier war er zuhause mitten im Dorf, beteiligt am Dorfleben. Er begegnete Menschen, die ihn kannten, die mit ihm geredet oder ihn auch wegen seiner Lebensweise kritisiert hatten. Aber er gehörte dazu.

Nun ist er gestorben. Im Wald oberhalb des Dorfes haben wir ihn begraben. Seine Freunde und ein paar Menschen aus dem Dorf waren dabei. Es war eine fröhliche Beerdigung. Die Pfarrerin des Dorfes hat geredet, ein paar Freunde machten Musik, eine Wegbegleiterin hat aus seinem Leben erzählt, von Frankfurt, wo er früher gewohnt hat. Über allem lag so etwas wie sein Vermächtnis, eine Vision: Leben und sterben wo ich daheim bin.

Er hat jahrelang in diesem Dorf gelebt. Hier durfte er bleiben bis zum Tod. Hier war er daheim bis zum Schluss.

Die meisten Menschen wünschen sich das, so sagen die Altersforscher. Sie möchten – wenn’s geht – in ihren vier Wänden alt werden, dort bleiben und auch sterben, in der vertrauten Welt – daheim.

Das hat der Mensch, von dem ich erzählt habe und dessen Weggefährte ich auch war, so erlebt. So konnten wir bei dem Abschied im Wald auch sagen:

Wir wollen nicht nur klagen, dass wir ihn verloren haben,
wir wollen auch dafür danken, dass wir ihn hatten,
und dass er bei uns daheim war bis zum Schluss.

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