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Warum wir Vorbilder brauchen
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Warum wir Vorbilder brauchen

Michael Tönges-Braungart
Ein Beitrag von Michael Tönges-Braungart, Pfarrer

Musikkonzeption: Uwe Krause

Haben Sie Vorbilder für Ihr Leben? Oder sind Sie selber ein Vorbild für andere? „Vorbilder sind ein menschliches Urbedürfnis“, sagt die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich. Und weiter: „Wir werden als total hilflose Wesen geboren, und deshalb brauchen wir Erwachsene, die mit der Welt zurechtkommen und an denen wir uns orientieren können. Außerdem brauchen wir Ideale, nach deren Verwirklichung wir streben können. Sonst sind wir einem Gefühl der Leere ausgesetzt.“
Ich erinnere mich an Vorbilder, die ich als Kind oder Jugendlicher hatte. Menschen, zu denen ich aufgeschaut habe und von denen ich gedacht habe: „So möchte ich gerne sein oder einmal werden!“ Der Held einer Jugendbuchreihe, die in den österreichischen Bergen spielte. Mario hieß er, glaube ich, und war ein toller Skifahrer. Später gab es in meiner Kirchengemeinde einen Ehrenamtlichen, der schon 18 war und Gruppen geleitet hat, der toll Gitarre und Klavier spielen konnte – und ein guter Sportler war er noch obendrein.
Als Erwachsener lächele ich manchmal über die Vorbilder meiner Kindheit. Wie Winnetou möchte ich heute nicht mehr sein. Aber es gibt auch Vorbilder, die ich heute noch habe: Z.B. mein Deutschlehrer damals, der klare Positionen vertrat und uns zur Auseinandersetzung herausforderte, der ein weites Herz hatte für alle, die anders dachten. Andere Vorbilder habe ich irgendwann über Bord geworfen, weil sie unrealistisch waren oder kurzlebig; weil sie nicht passten; oder auch, weil sie nicht das gehalten haben, was ich mir von ihnen versprochen hatte. Denn es gibt ja auch falsche und gefährliche Vorbilder. In der Geschichte unseres Landes hat eine ganze Generation das nach dem Ende des Dritten Reiches schmerzlich erkennen und von diesen falschen Vorbildern Abschied nehmen müssen.
Ich habe Jugendliche im Konfirmandenunterricht gefragt, was denn ihre Vorbilder sind. Und damit niemand sich zu irgendeiner Aussage verpflichtet fühlte, haben sie ihre Vorbilder anonym auf Zettel geschrieben. Da kam eine ganze Menge zusammen. Manche Namen waren eher scherzhaft gemeint wie Bernd das Brot; bei anderen wie zum Beispiel dem Gangster-Rapper Eminem habe ich so meine Bedenken, ob er ein gutes und hilfreiches Vorbild ist. Die Mischung an Vorbildern der Jugendlichen war bunt.
Zum einen waren es Personen aus Fernsehsendungen wie „Germany’s Next Topmodel“ oder „Deutschland sucht den Superstar“.
Dann waren es erfolgreiche Menschen – Sportler oder Popstars oder auch Unternehmer wie Bill Gates oder Mark Zuckerberg.
Außerdem haben die Jugendliche Menschen als ihre Vorbilder aufgeschrieben, die sich für eine gute Sache einsetzen wie zum Beispiel für den Tierschutz, den Umweltschutz oder die Menschenrechte.
Und schließlich waren unter den Vorbildern auch Menschen, die die Jugendlichen persönlich kennen: die Eltern, Oma, Opa oder andere Familienmitglieder.

Es gibt verschiedene Gründe, warum ein Mensch für andere ein Vorbild ist. Der eine hat eine besondere Begabung. Er hat etwas Besonderes geleistet und dabei Erfolg gehabt wie Bill Gates, der Microsoft von einer Hinterhoffirma zum Weltkonzern gemacht hat.
Andere sind prominent und stehen im Rampenlicht wie die Teilnehmerinnen bei Casting-Shows.
Es gibt Menschen, die sind für andere ein Vorbild, weil sie eine Überzeugung haben und dafür einstehen wie zum Beispiel Greenpeace-Leute. Reden und Handeln müssen dabei übereinstimmen.
Wenn ich als Erwachsener die Vorbilder der Jugendlichen von heute betrachte, dann sind das natürlich andere Personen als die Vorbilder, die ich hatte, als ich jung war. Aber das, was Menschen jeweils zu Vorbildern macht, ist doch dasselbe geblieben.
Eines hat sich für mich Erwachsenen aber in jedem Fall verändert: Ich muss mich fragen, ob ich selber für andere ein Vorbild bin und ein Vorbild sein will – als Vater,, in meinem Beruf, im Verein, in der Nachbarschaft, nicht zuletzt als Christ.
Will ich als Erwachsener selber Vorbild sein, und traue ich mir das zu? Oder denke ich: „Ach nein, das doch lieber nicht. Das ist zu viel Verantwortung! So vorbildlich bin ich doch gar nicht! Und ich bin auch nicht immer glaubwürdig in dem, was ich sage und tue. Und überhaupt: Ich bin doch nichts Besonderes.“
Aber etwas Besonderes muss man ja gar nicht unbedingt sein, um als Vorbild zu taugen – auch nicht als Christ. Die Bibel rechnet damit, dass grundsätzlich alle Christen für andere Vorbilder sein können. Wobei Vorbild-Sein nichts mit Makellosigkeit oder Fehlerlosigkeit zu tun hat. Dass auch Christen – wie alle Menschen – nicht ohne Fehler und nicht ohne Schuld und Versagen sind, das weiß die Bibel genau. Und sie geht damit sehr viel nüchterner und realistischer um, als ich mich das oft traue.
Im Neuen Testament ist von Vorbildern die Rede – und davon, was sie ausmacht. Da schreibt einer an eine christliche Gemeinde:
„Die Ältesten unter euch ermahne ich (…): Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund,  nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde. So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen.“ (1. Petrus 5,1-4)
Da steht viel drin, was einen Menschen zum Vorbild macht. Das ist jemand, der mit ganzem Herzen bei der Sache ist. Nicht, weil es um seinen Vorteil geht oder weil er damit etwas verdienen kann. Nicht, weil er über den anderen stehen will, ihnen vorschreiben will, wie sie zu leben haben. Die Ältesten sollen keine Herrscher, sondern ein Vorbild sein. „Typos“ steht da im Griechischen. Ein Typ. Jemand, der markant ist, bei dem die anderen wissen, woran sie bei ihm sind und wofür er steht. Christen wird nicht nur zugetraut, sondern auch zugemutet, für andere so ein Vorbild zu sein. Zwar geht es im 1. Petrusbrief, aus dem der Bibeltext stammt, zunächst um die Ältesten, also um die Menschen, die eine christliche Gemeinde leiten wie heutzutage ein Kirchenvorstand. Aber was für sie gilt, trifft auch auf alle anderen Christen zu, auf Alte genauso wie auf Jugendliche.

Vorbild sein bedeutet vor allem, einen eigenen Standpunkt haben und den vertreten. Und das bedeutet immer auch: andere – gerade auch Jugendliche – zur Auseinandersetzung anregen. Denn eine eigene Position, einen eigenen Standpunkt können sie nur dann gewinnen, wenn sie sich mit anderen Standpunkten auseinandersetzen; wenn sie eine fremde Meinung übernehmen, sie sozusagen zur Probe anziehen wie ein Kleidungsstück und sie dann auch wieder ablegen, falls sie nicht passt.
Genau dazu laden Vorbilder ein mit ihrer Meinung, ihrem Standpunkt, ihrer Position. Wenn Christen Vorbilder sein wollen, dann sollen sie dabei ruhig ihren Glauben, so wie sie ihn verstehen, vertreten. Nicht weniger – denn das erwarten gerade Jugendliche, dass Erwachsene da eine Meinung haben. Aber auch nicht mehr – denn was ich selber nicht bejahen kann, das kann ich auch nicht vertreten; denn andere merken ganz schnell, wenn etwas nur aufgesetzt ist.
Vorbild sein bedeutet: andere prägen und beeinflussen; aber nicht versuchen, sie mir gleich zu machen. Das ist ganz wichtig. Natürlich möchte ich meine Einstellungen und auch meinen Glauben an andere weitergeben; weil mir etwas daran liegt; weil die anderen mir wichtig sind, aber eben auch meine Einstellungen und mein Glaube bedeuten mir viel. Nur wenn sie mir gleichgültig wären oder ich meinen Glauben letztlich für etwas Verzichtbares oder Überflüssiges halten würde, wäre es mir egal, ob andere ihn teilen. Also: Überzeugung gehört dazu.
Aber es ist wichtig, dass ich anderen dabei Freiheit lasse. Ob ich akzeptiere, dass sie ihren eigenen Weg gehen und vielleicht einmal ganz anders leben und anders glauben als ich. Und dass ich den anderen Freiheit lassen kann, das hat etwas mit meinem Vertrauen auf Gott zu tun. Damit, ob ich Gott zutraue, dass er schon seinen Weg gehen wird mit den Menschen, die mir wichtig sind – auch wenn der Weg ganz anders aussieht, als ich ihn für richtig halte. Ob ich Gott zutraue, dass er die anderen begleitet und nicht sich selber überlässt – auch dann, wenn ich den Eindruck habe, dass sie sich von ihm entfernen.
Vorbild sein – auch im Glauben – bedeutet: andere prägen und beeinflussen und ihnen dabei Freiheit lassen. Von meinem Glauben erzählen und ihn leben und dazu einladen – und es dem Geist Gottes überlassen, was er in anderen bewirkt.

Vorbild sein bedeutet: ehrlich sein auch in Bezug auf die eigenen Grenzen und Schwächen, in Bezug auf eigenes Versagen und eigene Schuld. Wenn ich mich bemühe, als Christ Vorbild zu sein mit meinem Glauben und mit meinem ganzen Leben, dann kann ich zugeben, wo auch bei mir Glauben und Leben, Reden und Handeln auseinander klaffen. Dann kann ich zugeben, wo ich selber mit mir unzufrieden und uneins bin. Dann kann ich meine eigenen Fragen und Zweifel zugeben; ganz offen sagen, wo es mir schwer fällt zu glauben und mit welchen Sätzen im Glaubensbekenntnis ich meine Schwierigkeiten habe. Etwa wenn es da heißt, dass Jesus von der Jungfrau Maria geboren worden ist. Dann kann ich eingestehen, wo ich versage, und andere um Verzeihung bitten, wo ich sie enttäuscht oder verletzt habe. Das kann ich, weil ich weiß, dass ich mich nicht selber rechtfertigen muss; Ich muss nicht selber dafür sorgen, dass mein Leben gut und stimmig ist; dass ich am Ende „sauber“ da stehe. Gott ist es, der mich rechtfertigt; der sein Ja zu mir spricht, so wie ich bin; Gott vergibt mir meine Schuld und mein Versagen. Er verliert die Geduld mit mir nicht und arbeitet immer wieder an mir und mit mir, damit ich mich verändere. Ich kann zu meinen Fehlern und Schwächen und zu meinem Versagen stehen, weil nicht ich selber etwas aus mir machen muss. Gott hat etwas aus mir gemacht und macht immer wieder neu etwas aus mir.
Für mich jedenfalls sind besonders die Menschen ein Vorbild, die zu ihren Fehlern stehen können.
Das ist wohl das Wichtigste und auch das Besondere daran, wenn Christen sich bemühen, Vorbilder für andere zu sein: Sie müssen sich nicht besser darstellen, als sie sind. Ob als Ehrenamtliche in der Kirche, als Pfarrerinnen oder als Mitarbeiter in der Gemeinde; oder einfach als Menschen, die versuchen ihren Glauben im Alltag zu leben als Eltern und Großeltern, als Nachbarinnen und Vereinskameraden, als Lehrer und Ausbilder und Arbeitskollegen. Da sind keine Superstars gefragt, sondern echte Menschen.

Vorbilder – das sind für mich keine makellosen Superstars, sondern echte Menschen. So ein echter Mensch ist Jesus Christus gewesen. Insofern ist er für Christen natürlich ein Vorbild. Ein Vorbild, was sein Leben angeht und seinen Glauben, sein Vertrauen auf Gott. Jesus ist für Christen ein Mensch, nach dem sie sich ausrichten. Für mich ist vorbildlich an Jesus, dass er Menschen unvoreingenommen begegnet ist – gerade auch denen, die in den Augen der anderen als Sünder galten, als moralisch unakzeptabel – so wie damals die Zöllner. Mich beeindruckt, wie Jesus sich von anderen überzeugen ließ wie von einer ausländischen Frau, der er zuerst eine Abfuhr erteilt hat, als sie ihn um Hilfe für ihre kranke Tochter bat. Er wollte ihr nicht helfen, weil sie keine Jüdin war. Aber sie hat nicht lockergelassen und schlagende Argumente gebracht – und Jesus hat sich umstimmen lassen.
In vielem ist Jesus für mich und für viele Christen ein Vorbild. Aber er ist auch noch mehr. Denn wäre er nur ein Vorbild, zu dem man aufschauen und dem man nacheifern kann, dann müsste man ziemlich bald resignieren und aufgeben. Weil dieses Vorbild unerreichbar ist; weil niemand es schaffen wird, so zu sein wie er.
Jesus Christus ist mehr als ein Vorbild. Er ist kein innerer Antreiber. Er will mir kein schlechtes Gewissen machen, wenn ich hinter dem zurückbleibe, was er vorgelebt hat. Ich glaube: Er steht als Begleiter und Helfer neben mir. Er nimmt mich bei der Hand, wenn ich mich unsicher fühle; er gibt mir seine Kraft, wenn ich schwach werde; er führt mich sicher, wenn ich die Richtung verlieren; er sorgt für mich, wenn ich Angst habe, zu kurz zu kommen; er traut mir etwas zu, wenn ich an mir selber zweifle; er weckt in mir Mut, wenn ich ängstlich bin. Deshalb ist Jesus Christus für mich mehr als ein Vorbild. Mit ihm an meiner Seite traue ich mich, selbst ein Vorbild zu sein.

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