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Toleranz - Leitprinzip für jede Gesellschaft
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Toleranz - Leitprinzip für jede Gesellschaft

Dr. Ursula Schoen
Ein Beitrag von Dr. Ursula Schoen, Prodekanin, Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt

Vor mir leuchtet ein großes Kreuz in der Sonne. Langsam steigen wir die letzten Höhenmeter bis zum Pass. Drei anstrengende Stunden liegen hinter uns. Eine winzige Etappe auf einem neuen europäischen Wanderweg. Er hat einen ungewöhnlichen Namen: „Der Weg der Toleranz“. Dieser Wanderweg beginnt in dem kleinen Ort Poet-Laval in Südfrankreich und führt über die französischen Alpen in die Schweiz. Von dort geht es weiter durch Württemberg bis nach Bad Karlshafen in Nordhessen.

Diese über 2000 km lange Strecke war Ende des 17. Jahrhunderts so eine Art Balkanroute, der einzige Fluchtweg für viele. Rund 200.000 Menschen haben sich auf dieser Route Ende des 17. Jahrhunderts nach Norden bewegt. Sie waren Protestanten aus Frankreich und Italien. Sie versuchten, den Verfolgungen durch die französische Krone zu entgehen. Knapp 100 Jahre lang war ihr Glaube in Frankreich toleriert worden. 1685 wurde das Toleranzedikt von Nantes durch Ludwig XIV. aufgehoben. Die Flüchtlinge suchten eine neue Bleibe in der Fremde, im Exil.

Auch meine eigenen Vorfahren waren auf dieser Route unterwegs. Die Tagesetappen über große Höhenunterschiede hinweg waren hart, die Lebensbedingungen entsetzlich. Mehrere meiner Vorfahren starben auf dieser Strecke. Am Ende ihres Fluchtweges konnten sie sich in Brandenburg ansiedeln.

Nach den unsicheren Jahren auf der Flucht waren auch die Anfangsjahre in Deutschland nicht leicht. Die Flüchtlinge aus Frankreich waren die „Fremden“. Sie konnten kein Deutsch sprechen. Sie lebten nach ihren Traditionen und Gewohnheiten in festgefügten deutschen Dorf- und Stadtgemeinschaften. Auch in ihrem Glauben waren sie Fremde. Sie hatten das sogenannte reformierte Bekenntnis, angestoßen durch den Reformator Johannes Calvin. Sie wollten sich nicht in die evangelischen Kirchen integrieren, die von Martin Luther beeinflusst waren, denn es gab einige Unterschiede. Als Reformierte erhielten die Glaubensflüchtlinge eigene Kirchorte und das Recht, nach ihren Regeln Gottesdienst zu feiern. Die Landesherren zeigten sich dabei überraschend tolerant. Sie respektierten nicht nur den Glauben der reformierten Flüchtlinge, sondern gaben ihnen auch die die Möglichkeit, eigene Gemeinden zu bilden. Sie gewährten Religionsfreiheit. An vielen nordhessischen Kirchen finden sich heute noch Inschriften, die dem Landesfürsten für die tolerante Aufnahme danken.

Seit der Reformationszeit stellt sich immer wieder neu die Frage, ob und wie verschiedene Konfessionen und Religionen und einer Gesellschaft zusammenleben können. Toleranz ist dabei ein wichtiges Prinzip für das Miteinander von Menschen geworden. Toleranz ist mehr als ein großzügiger Umgang mit den Vorlieben der Nachbarn. Sie basiert auf der unantastbaren Würde des Menschen. Wer tolerant ist, ist offen gegenüber denen, die nicht so sind wie er oder sie selbst. Für Christinnen und Christen ist Toleranz in Gottes Güte gegenüber allen Menschen begründet.

Jedes Jahr im September erinnern die französischen Protestanten mit einem großen Gottesdienst an die Zeit der Verfolgungen. Sie verbinden dies mit einem Plädoyer für eine tolerante Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der die Fremden aufgenommen werden und Menschen ihren Glauben leben können.

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