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So kocht man in Wien
Bild: detmold_pixabay

So kocht man in Wien

Dr. Ansgar Wucherpfennig
Ein Beitrag von Dr. Ansgar Wucherpfennig, Jesuitenpater, Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt
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In einem alten Kochbuch lese ich: „Warum geraten die Weihnachtsstollen nicht? Darüber gerät die Hausfrau manchmal in gelinde Verzweiflung. Der ganze schöne Stollen ist sitzengeblieben, trotz aller aufgewandten Mühe.“ Ich schlage das Buch wieder zu und lege es auf meinen Schreibtisch. Vermutlich kennen viele das Problem, um das es da geht, nicht nur Hausfrauen, sondern auch Männer, die sich an einem Weihnachtsstollen versuchen. Seit ein paar Tagen habe ich dieses alte Kochbuch ausgeliehen. Es gibt mehr als 2000 Rezepte darin und andere Tipps zum Kochen, längst nicht nur für die Weihnachtszeit.

Das arisierte Kochbuch

„So kocht man in Wien!“, heißt das grüne Buch auf meinem Schreibtisch, und es ist 1939 erschienen. Als Autor steht auf der Vorderseite in Großbuchstaben „Rudolf Rösch“, und dahinter verbirgt sich ein spannender Kriminalfall. Das Buch stammt nämlich nicht von einem Rudolf Rösch. Es ist ursprünglich von einer Wiener Jüdin geschrieben worden, mit dem Namen Alice Urbach. 1935 hat sie es unter ihrem Namen herausgebracht, und es wurde ein echter Bestseller unter den Kochbüchern. Als die Nazis Wien eingenommen hatten, wurde es 1938 neu aufgelegt. Alice Urbach wurde gezwungen, ihre Rechte an den Verlag abzutreten. Das Buch wurde arisiert. Rezepte mit typisch jüdischen Namen – Matzeknödel oder Haifatorte – wurden herausgestrichen, aber etwa 60 Prozent des ursprünglichen Buches wurden übernommen. Fortan erschien es aber unter dem neuen Namen Rudolf Rösch. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Verlag das Buch einfach unter dem neuen Namen weiter gedruckt.

Aber meine jüdischen Hände auf den Fotos blieben drin

Alice Urbach war inzwischen in die USA emigriert. Nach 1945 hat sie versucht, die Rechte zurückzuerhalten, aber der Verlag hat es abgelehnt. Es wurde bis in die 60er Jahre unter dem falschen Namen neu aufgelegt. Die arisierte Fassung wurde weitergedruckt, und Alice Urbach kommentierte: „… aber meine jüdischen Hände auf den Fotos blieben drin”. Erst in den letzten Jahren hat der Verlag das Buch in seiner ursprünglichen Fassung und mit dem Namen der wahren Autorin in einer unverkäuflichen Auflage noch einmal herausgegeben.

Den neuen Formen von Antisemitismus solidarisch entgegentreten

Dieses Jahr wurde das Jubiläum „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ begangen. Das Wiener Kochbuch ist ein weiteres Unrechtskapitel in dieser vielfältigen Geschichte. Das Buch auf meinem Schreibtisch lehrt mich aber auch etwas für die Gegenwart. Jüdinnen und Juden können heute in Deutschland zwar wieder unter ihren Namen Kochbücher schreiben; die 14 besten jüdischen Kochbücher lassen sich im Internet finden. Dafür sind Jüdinnen und Juden heute anderen Anfeindungen ausgesetzt, und sie haben auch in diesem Jahr wieder zugenommen. Es geht darum, heute auf Jüdinnen und Juden zu hören, wie sie Antisemitismus erleben. Für sie, als Betroffene, ist Antisemitismus keine Geschichte. Daraus kann eine Solidarität wachsen, die den neuen Formen von Judenfeindlichkeit in Deutschland entgegentritt.

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