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Schlimmer als stehlen
Pixabay/Rafa Albaladejo

Schlimmer als stehlen

Andrea Seeger
Ein Beitrag von Andrea Seeger, Evangelische Theologin
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Iliya ist ein junger Geschichtsstudent aus Plowdiw im Süden Bulgariens. Er führt Touristen durch seine Stadt. Der junge Mann ist stolz darauf, dass Plowdiw in diesem Jahr europäische Kulturhauptstadt ist. Er ist geboren in dieser Stadt, die älter ist als Rom. Und er arbeitet für die Organisation Free Tours 365. An jedem Tag im Jahr, egal, bei welchem Wetter, egal, an welchem Feiertag steht einer von den jungen Leuten im Stadtführungsteam bereit, um Menschen die Attraktionen der Stadt zu zeigen, geduldig ihre Fragen zu beantworten. Am Ende zahlt jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer das, was ihr oder ihm die Tour wert ist.

Die kleine Gruppe, die Iliya an diesem Tag führt, ist bunt gemischt und kommt aus unterschiedlichen europäischen Ländern. Drei junge Männer, ein Ehepaar, eine Studentin, eine Familie mit zwei erwachsenen Söhnen ,– alle mehr oder weniger im bequemen Sightseeing-Urlaubslook. Bis auf das hochgewachsene junge Paar. Er mit handgenähten Schuhen, dicker Uhr und Kamelhaarmantel samt Kaschmirschal. Sie blond und langhaarig mit eleganten Stiefeln, Kamelhaarmantel samt locker gebundenem Seidenschal, den Riemen einer noblen Designertasche über der Schulter.

Nach gut zwei Stunden endet die Tour. Iliya beantwortet noch lange geduldig viele Fragen, gibt Tipps, wo man gut essen und trinken kann. Die Mitglieder der Gruppe überlegen, welchen Betrag sie zahlen möchten, beraten sich murmelnd, geben dem jungen Mann kleinere oder größere Scheine, einen oder auch mehrere. Nur das elegante Paar nicht. Es dreht sich um und geht. Einfach so! Ohne Danke zu sagen, ohne einen Obolus zu entrichten.

Marie von Ebner-Eschenbach, eine österreichische Schriftstellerin, schrieb: „Haben und nicht geben ist in manchen Fällen schlimmer als stehlen.“

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