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Sammeltrieb
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Sammeltrieb

Dr. Ulf Häbel
Ein Beitrag von Dr. Ulf Häbel, Evangelischer Pfarrer, Laubach-Freienseen
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„Er war ein typisches Nachkriegskind; er hatte einen Sammeltrieb.“ So stand es auf einem Zettel, den mir die Familie eines Verstorbenen beim Trauergespräch gegeben hat. Die Angehörigen hatten neben dem Geburt- und Sterbedatum und den Stationen seines Lebensweges auch aufgeschrieben, was für ihn charakteristisch war.

Nachkriegskinder können nichts wegwerfen

Eben auch: „Er hatte einen Sammeltrieb.“ Seine Frau erzählt: „Er hat alles aufgehoben. Ja nichts wegwerfen!, hat er immer gesagt. Man könnte das ja noch einmal gebrauchen.“

Ja nichts wegwerfen, das kommt mir bekannt vor. Ich bin auch so ein Nachkriegskind und habe als Junge gelernt: Heb die Schrauben auf! Die kann man vielleicht noch einmal gebrauchen. Genauso die Abflussrohre vom Waschbecken, den ausrangierten Kinderwagen, die Gartenschaufel mit dem abgebrochenen Stil. Selbst die krumm gewordenen Nägel für die Wand wurden gerade gehämmert. Man könnte sie ja noch einmal gebrauchen.

Gerümpel oder noch brauchbar?

Dieser Sammeltrieb eines Nachkriegskindes ist mir vertraut. Und dementsprechend voll sind das Haus und die Scheune, meine Werkstatt. „Gerümpel“ haben das oft unsere inzwischen erwachsenen Kinder genannt. Und sie witzelten darüber, wenn ich etwas, das ich aufgehoben hatte, ausgerechnet dann nicht gefunden habe, wenn ich es brauchte.

In meinem Büro und Arbeitszimmer beweisen die übervollen Regale, dass ich auch Bücher nicht gut wegwerfen kann. Aber wohin mit all diesen gesammelten Werken und wozu sie aufheben? Diese Frage wurde mir schmerzlich bewusst, als kürzlich eines unserer Enkelkinder beim Anblick meines Arbeitszimmers gesagt hat: „Opa, wir müssen mal viel wegwerfen, wenn du tot bist.“

Nachkriegsgeneration contra Wegwerfgesellschaft

Es hört sich krass an; aber es stimmt. Und mein Enkelkind und ich verkörpern geradezu, wie unterschiedlich die Zeit einen prägen kann. Ich, ein Nachkriegskind mit Sammeltrieb, und mein Enkelchen, das in einer Wegwerfgesellschaft aufwächst.

Erinnerungen wirft man nicht weg

„Alles werfen wir nicht weg“, bemerkte meine Tochter, die uns zugehört hatte. Und dann zeigte sie ihrem Kind ein paar Dinge, die aufgehoben werden – ein Bild, an der Wand, ein Kalender, den wir einmal zusammen gebastelt haben, das Buch, aus dem ich oft vorgelesen habe. Die Dinge, die voll von Erinnerung sind, die wirft man nicht weg. Denn im Erinnern wird etwas aufgehoben von einem Menschen und unserer Geschichte mit ihm.

An einem alten Fachwerkhaus steht der Satz: „Die Erinnerung ist ein Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann.“ Ich finde, das stimmt. Kann sein, dass einmal das eigene Gedächtnis nachlässt. Aber dafür gibt es manche Dinge, die nicht nur einfach Sachen sind, sondern vom Leben erzählen. Und es gibt Menschen, die die Erinnerung weitertragen.

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