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Nächstenliebe konkret
Bildquelle: Gerd Altmann/Pixabay

Nächstenliebe konkret

Anke Haendler-Kläsener
Ein Beitrag von Anke Haendler-Kläsener, Evangelische Krankenhauspfarrerin, Flieden
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Sie nimmt Mädchen und Frauen ernst. Sie behandelt sie wie gleichwertige Menschen. Das ist in ihrer Zeit ungewöhnlich. Das weibliche Geschlecht hat damals kaum eigene Würde, kaum Bedeutung. Frauen sind dienstbare Geister, mehr nicht. Aber Louise sieht das anders, und sie handelt anders. Vielleicht besteht der Grund dafür in ihrer eigenen Lebensgeschichte. Sie hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, wenn andere auf einen herabschauen. Sie wird als uneheliches Kind geboren und hat das damals sicher zu spüren bekommen. Als ihr Vater, ein angesehener Adliger, sie endlich offiziell anerkennt, verändert sich viel. Aber dieses Gespür, was es heißt, am Rand zu stehen, das verliert sie nie mehr.

Louise von Marillac wächst im 16. Jahrhundert in einem Kloster auf. Vielleicht hat sie dort den Satz aus der Bibel gehört, der ihr ganzes Leben geprägt hat: Was ihr einem meiner geringsten Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. (Matthäus 25,45) Sie heiratet früh und bekommt einen Sohn, aber ihre eigentliche Berufung ist das nicht. Als ihr Mann stirbt, muss sie ihrem Leben eine neue Richtung geben. Der Glaube an Gott wird ihr immer wichtiger. Und ausgerechnet da trifft sie Vinzenz von Paul. Er wird ihr Seelsorger und nimmt sie als Person ernst. Sie haben neue bahnbrechende Ideen. Und zusammen können sie viel bewegen.

Im 16. und 17. Jahrhundert herrscht große Armut bei einfachen Menschen. Sie sind ungebildet. Sie sind arm und müssen hungern. Krankheiten breiten sich rasch aus, weil die nötige Hygiene fehlt. Jeder Tag ist ein Kampf.

Hier setzen Louise und Vinzenz an. Die beiden gehen zu den Ärmsten der Armen. Sie schauen einen Menschen an und sehen in ihm ein Kind Gottes. Dieser Blick gibt den Menschen ihre Würde zurück, adelt sie. Egal wie dreckig oder krank sie sind, sie bleiben Menschen. In jedem Menschen lebt etwas von Gott, lebt Christus.

Weil sie wirklich etwas verändern wollen, brauchen sie Menschen, die mitmachen. Vinzenz ist geschickt darin, seine Beziehungen spielen zu lassen. Er knüpft ein Netz zu Adligen und Kirchenleuten. Er gewinnt sie dafür, ihnen finanziell unter die Arme zu greifen. Louise sammelt in ihrem Haus Frauen und Mädchen, die sich anstecken lassen von ihrer Idee der Nächstenliebe. Sie wollen ganz konkret helfen. Louise missbraucht sie nicht als billige Arbeitskräfte, sondern bringt ihnen als allererstes Lesen und Schreiben bei. Sie weiß aus eigener Erfahrung, man muss gebildet sein, sich Wissen aneignen, um in dieser Welt zu bestehen. Und da macht sie keinen Unterschied zwischen Mann und Frau, zwischen Arm und Reich. Einfache Bauernmädchen leben bei ihr und werden gut ausgebildet. Das gilt in ihrer Zeit als unnötig, ja als skandalös. Aber sie werden erst danach ausgesandt, um zu helfen.

Was ihr einem meiner geringsten Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. (Matthäus 25,45) Louise und ihre Schwestern kümmern sich um Hungernde, um Strafgefangene, um Prostituierte und Findelkinder. Dabei leitet sie der Gedanke: Wenn ich einen Menschen ansehe, und ist er noch so elend – ich begegne in ihm Christus.

Musik 1 Isabella Leonarda, Sonata Duodecima in D minor, Adagio

Seit drei Jahren arbeite ich als Krankenhauspfarrerin. Dabei habe ich das große Glück, nicht in einem großen anonymen Haus zu arbeiten, sondern in einem kleineren katholischen Krankenhaus, gegründet von Vinzentinerinnen. Als evangelische Pfarrerin lerne ich dort immer wieder Neues und Überraschendes, das mich bereichert. So feiern wir jedes Jahr die Gedenktage der unterschiedlichen Heiligen der Ordensgemeinschaft. Und dazu gehört natürlich auch die große Gründergestalt Louise von Marillac.

Ich sehe in den Vinzentinerinnen oft etwas von den armen Bauernmädchen aufblitzen, die Louise ausgebildet hat. Das gefällt mir gut. Natürlich sind sie heute meist keine Mädchen mehr, denn auch ihr Altersdurchschnitt steigt und sie haben Nachwuchssorgen. Aber ich erlebe bei ihnen ganz viel unbekümmerten und fröhlichen Glauben. Sie nehmen sich Zeit für die Kranken, auch mitten in der Nacht. Sie beten für sie, ohne ihnen den Glauben aufzudrängen. Statt vieler Worte zünden sie manchmal lieber stumm eine Kerze in der Kapelle an. Sie singen mit ihnen und bringen dadurch sogar Demenzkranke zum Lachen. Dabei blitzt ihnen oft ein Schalk aus dem Gesicht. Sie nennen viele Patienten beim Namen, weil sie seit Jahrzehnten dort arbeiten: früher in der Pflege, heute meist in der Klinikseelsorge. Sie kennen/wissen um besondere Wünsche wie ein dickeres Kopfkissen, ein bestimmtes Obst zum Nachtisch oder eine Zeitung zum Frühstück. Die Vinzentinerinnen haben ein offenes Ohr für Krankenschwestern und Pfleger, für Ärztinnen und Ärzte. Sie behandeln die Menschen im Krankenhaus mit Respekt. Wie Vinzenz und Louise versuchen sie, in ihnen Christus zu sehen.

Musik 2 Isabella Leonarda, Sonata Duodecima, IV. Aria.Allegro und V. Veloce

In dem anderen Christus sehen. Dazu erzählt Leo Tolstoi eine Geschichte:
In einem kleinen Dorf lebte ein Schuster, der schon früh seine Frau und seinen Sohn verloren hatte.
Er war ein gottesfürchtiger Mann und las jeden Tag in der Bibel und betete. Er wollte so gern Jesus begegnen. Einmal mitten in der Nacht drang plötzlich eine Stimme an sein Ohr: "Martin, Martin - schau morgen gut auf die Straße, denn ich werde zu dir kommen!"
Hatte er diese Worte wirklich gehört oder nur geträumt? Als er sich umschaute, war niemand zu sehen, und es war alles still.
So schlief er wieder ein.

Am nächsten Morgen stand er früh auf, heizte den Ofen und setzte Wasser auf, fing an Tee zu kochen und Brot aufzuschneiden. Immer wieder blickte er auf die Straße. Gerade als er ein Stück Leder zuschnitt, hörte er Schritte, schaute auf – und er sah Stefan, den alten Straßenfeger, der schwerfällig dahin schritt und sich immer wieder die kalten Hände durch Anblasen zu wärmen versuchte. Der Schnee wirbelte umher, und es war bitter kalt.
Kurz entschlossen öffnete Martin das Fenster und rief: "Komm herein, Stefan, und wärm dich ein wenig bei mir.“ Er bot ihm eine Tasse heißen Tee an und ließ ihn sich an seinem Feuer wärmen.

Gerade hatte sich Martin hingesetzt, nachdem er die Kohlsuppe umgerührt hatte, da sah er draußen eine junge Frau, die ein ganz dünnes Kleid trug. Dabei presste sie ein kleines Kind an sich und versuchte, es in ihr Kleid einzuwickeln und warm zu halten. Er ging nach draußen und bat sie herein.
Er gab ihr einen Teller der heißen Suppe, die er zubereitet hatte. Bevor er sie wegschickte, kramte er einen alten Mantel hervor. Er sollte sie warm halten. Außerdem gab er ihr ein paar Groschen für sich und ihr Kind, etwas um Essen oder Kleidung zu kaufen.

Martin machte sich an die Arbeit. Sie musste morgen früh abgeliefert werden. Als es dunkel wurde, zündete er seine Lampe an, und als der letzte Handgriff getan war, nahm er seine Bibel zur Hand. Er wollte nochmals den Text lesen, der ihn am Abend zuvor so beschäftigt hatte.

Es war ihm auf einmal, als ginge jemand auf ihn zu und rührte ihn an. Er blickte sich um und sah schemenhaft einige Gestalten. Eine Stimme flüsterte ihm ins Ohr: „Martin, hast du mich nicht erkannt?" Aus der Ecke winkten sie ihm entgegen.
„Das war ich", sagte die Stimme, und die Frau mit dem Kind trat hervor und lächelte ihn an.
„Auch das war ich", sagte die Stimme wieder.
Staunend schaute Martin sie alle an, worauf sie wie im Nebel vor seinen Augen verschwammen.

Da begriff der Schuster Martin, dass sein Traum wahr geworden war. Jesus war wirklich zu ihm gekommen. Er schlug nachdenklich die Bibel auf und las: Was ihr einem meiner geringsten Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. (Matthäus 25,45)
Da war der Schuster sehr froh, denn er war an diesem Tag gleich mehrmals Gott begegnet und legte sich voller Freude ins Bett.
 

Musik 3 Elizabeth Jacquet-de la Guerre, Sonata No. 2 in D major, I. Presto

Was ihr einem meiner geringsten Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Diesen Satz sagt Jesus ursprünglich zu seinen Jüngern. Er erzählt ihnen die Geschichte vom Weltgericht: Am Ende der Zeiten schaut Gott sich an, wie die einzelnen Menschen gelebt haben. Wie ein König sitzt er auf seinem Thron und beurteilt sie. Ich merke, der Gedanke an eine Abrechnung ist mir fremd: dass da Noten verteilt und Menschen vorgeführt werden sollen. Da fühle ich mich ins Mittelalter versetzt, wo durch die Drohung mit Gott, dem Richter Menschen Angst gemacht wurde. Glaube wurde oft von Angst gespeist. Angst vorm Teufel. Angst vor ewiger Verdammnis. Das hat sich die Kirche viel zu oft zunutze gemacht. Wer Angst hat, der kauft sich gern frei. So entstand der Ablasshandel und solche furchtbaren Mechanismen. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen wie im Märchen vom Aschenputtel - das passt so gar nicht zu dem liebenden Gott, der mir viel näher ist.

Auf der anderen Seite ist es auch nicht völlig egal, wie sich jemand verhält.
Vergeben und vergessen – das wäre zu simpel, wenn jemand wirklich lieblos oder böse handelt. Es spielt schon eine Rolle, wie wir leben. Es hat ja Konsequenzen. Es hat schon Konsequenzen hier auf unserer Erde, wenn Menschen egoistisch sind und ohne Rücksicht auf Verluste handeln. Die Natur schlägt Alarm, wenn Regenwälder abgeholzt werden und zu viele Flugzeuge gedankenlos benutzt werden. Die Artenvielfalt der Vögel ist heute deutlich geringer als in meiner Kindheit. Vom Bienensterben gar nicht erst zu reden. Ich finde, die jungen Leute von Fridays for Future mahnen die ältere Generation zurecht. Unser Verhalten hat Konsequenzen. Es ist 5 vor 12.

Jesus erzählt seinen Jüngern die Geschichte vom Weltgericht. Damit zu drohen ist heute meist in den Kirchen nicht mehr üblich. Zum Glück! Ich glaube, Jesus erzählt davon, um die Menschen aufzuwecken. Statt ihnen Angst zu machen, will er sie anstiften, damit sie umkehren und sich anders verhalten. Um Gutes aus ihnen herauszulocken. Der evangelische Theologe Eberhard Jüngel hat schmunzelnd den schönen Satz gesagt: „Es ist zwar christliches Dogma, dass es eine Hölle gibt. Es ist aber nicht christliches Dogma, dass auch jemand darin ist.“ (Jüngel, Eberhard: "Gericht und Gnade", Vortrag auf dem Evangelischen Kirchentag 1989 in Berlin, abgedruckt in epd Dokumentation 29/89, S. 35-62, S.61)

Was mir besonders auffällt, ist, wie überrascht die sind, die der König lobt. Ihm sei es schlecht gegangen, aber sie hätten sich um ihn gekümmert. Darauf fragen sie: Wann warst du krank oder im Gefängnis, und wir haben dich besucht? Wann hast du gehungert, und wir haben dir zu essen gegeben? Wann warst du nackt, und wir haben dir Kleidung gebracht? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Sie sind ganz verdutzt. Sie sind genauso erstaunt wie der Schuster Martin in der Geschichte von Tolstoi. Eigentlich sind es ja keine großen Sachen, die sie da getan haben. Kleine Gefälligkeiten, ganz selbstverständlich. Sie versuchen nicht, die ganze Welt zu retten, sondern haben da, wo sie leben, offene Augen. Und genau dafür werden sie gelobt. Und damit wendet Jesus den Fokus weg vom Weltgericht am Ende unserer Tage zurück ins Leben. Leben aus dem Glauben macht Freude, nicht Angst. Es macht einen Unterschied.
Was ihr einem meiner geringsten Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Indem sie sich den Geringsten der Menschen zuwenden, tun sie es eigentlich für Christus. Christus wird eins mit den Geringsten. Er stellt sich nicht nur an ihre Seite, sondern er nimmt ihre Identität an.
Das wünsche ich mir sehr. Offene Augen, wo ich gebraucht werde. Und dann die Überraschung: wie – das war eigentlich Jesus?!

Musik 4 Isabella Leonarda, Sonata Duodecima, Vivace e Largo

Was ihr einem meiner geringsten Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Vor unseren Augen tauchen wahrscheinlich die unterschiedlichsten Menschen auf, wenn wir diesen Satz hören. Die Geringsten – wer kann das sein? Ich glaube, wichtig ist, dass Jesus sie Brüder und Schwestern nennt. Es sind also nicht irgendwelche anonymen Gruppen wie die Alleinerziehenden, die Hartz IV-Empfänger, die Geflüchteten. Es sind einzelne Menschen, die dadurch ihre Würde behalten oder sie zurückbekommen. Es sind einzelne Menschen, die besucht, aufgenommen, gespeist und gekleidet werden. Keine Gruppen, die irgendwie verhandelt werden müssen, sondern Schwestern und Brüder. Gleichberechtigte Individuen. Und wenn ich Menschen mit diesem Blick Jesu betrachte, dann wird unsere Welt ein Stückchen besser. Das setzt mich in Bewegung.

Musik 5 Elizabeth Jacquet-de la Guerre  Sonata No 2 n D major, Presto

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