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Mittagsläuten
Bild: Momentmal/Pixabay

Mittagsläuten

Tanja Griesel
Ein Beitrag von Tanja Griesel, Evangelische Pfarrerin, Fritzlar
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Ich arbeite in einer diakonischen Einrichtung. Jeden Mittag läuten dort um zwölf Uhr die Glocken. Sie rufen zum Gebet in die kleine Kapelle. Früher haben in dem Haus Diakonissen gelebt. Ora et labora – bete und arbeite war ihre Lebensregel. Ihr Tag wurde von festen Gebetszeiten strukturiert. Morgens, mittags und abends. Heute leben keine Diakonissen mehr im Haus. Doch die Glocken laden immer noch dreimal täglich zum Gebet ein. Mittags sind es gerade einmal eine Handvoll Menschen, die dort zusammenkommen. Der Ablauf ist einfach. Wir beten. Wir singen. Am Ende wird der Segen verlesen. Zehn Minuten dauert die Andacht. Davon entfallen schon mehrere Minuten auf das Glockenläuten. Nichts Besonderes wird man denken, wenn man davon hört. Es gibt keine Predigt, keine Orgelbegleitung und auch sonst keine Überraschungen.

Dennoch habe ich die 12-Uhr-Andacht für mich entdeckt. Wann immer es geht, nehme ich mir mittags Zeit dafür. Ich unterbreche das, was ich gerade tue, verlasse meinen Schreibtisch und mache mich auf, um einmal durch das ganze Haus bis hinunter in die Kapelle zu laufen. Ich zünde ein Teelicht an, nehme mir eins der schon oft benutzten Liedblätter und setze mich auf eine Bank. Weil wir so wenige sind, sitzen wir ganz vorne im Chorraum um den Altar. Das Sonnenlicht fällt durch die Buntglasfenster und zaubert farbige Bilder auf den Steinboden. Es ist ein besonderer Augenblick. Jedes Mal. Niemand erwartet etwas. Man muss nichts leisten. Man darf einfach dabei sein.

„Du erquickest meine Seele.“ So steht es im Psalm 23. „Erquicken“ ist ein altertümlicher Ausdruck. Er gehört auf jeden Fall nicht zu unserer Alltagssprache. Gerade deshalb stolpere ich immer wieder darüber. Erquicken meint: anregen, erfrischen, aktivieren, aufmuntern, beflügeln. Von all diesen Bedeutungen trage ich etwas in mir, wenn ich leichten Schrittes an meinen Schreibtisch zurückkehre. Es sind nur ein paar Minuten, aber sie wirken lange nach. Gönnen wir uns doch alle mehr solcher Unterbrechungen im Alltag: ein Innehalten beim Glockenläuten, der Besuch einer offenen Kirche, das Lesen eines Psalms. Sich auch einmal auf diese Weise was Gutes tun und dabei zu spüren, was es heißt, sich erquicken zu lassen.

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