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Befreit – Luthers Turmerlebnis
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Befreit – Luthers Turmerlebnis

Andrea Wöllenstein
Ein Beitrag von Andrea Wöllenstein, Evangelische Pfarrerin i. R., Marburg
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Musik: Stücke aus „Luther! Ein Weltmusik-Oratorium“ von Jean Kleeb

Seit Stunden sitzt er an seinem Schreibtisch und kommt nicht weiter. Er hat viele Blätter beschrieben, Bücher gewälzt, Notizen gemacht. Doch der Funke springt nicht über. Ihm kommt kein zündender Gedanke. Aber genau das erwarten seine Studenten. Dass er morgen wieder eine spannende Vorlesung hält. Thesen, die provozieren. Neue Gedanken, über die sie diskutieren können. Über den Glauben will er sprechen. Über Gerechtigkeit und Freiheit, wie Paulus sie in seinem Römerbrief beschrieben hat.  Aber es ist, als hätte er einen Knoten im Hirn.
Er kennt seine Bibel. Kennt sich aus mit den Auslegungen der alten Kirchenväter und ihren theologischen Positionen. Keiner stört ihn beim nächtlichen Studium im Turm des Wittenberger Klosters. An all dem liegt es nicht. Die Blockade, was ihn lähmt, sitzt tiefer. Im Herzen. Da zieht sich alles zusammen, je mehr er nachdenkt. Wie ein Knoten, der immer enger wird. Was ihn schon lange quält, bedrängt ihn wieder. Alte Ängste melden sich zurück.  Später beschreibt Martin Luther es in einem Lied so:

„Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren.
Mein Sünd‘ mich quälten Nacht und Tag, darin ich war geboren.
Ich fiel auch immer tiefer drein, es war kein Guts am Leben mein,
die Sünd‘ hat mich besessen.“ EG 341,2

Diese Worte klingen wie aus einer fremden Welt. Angst vor dem Teufel? Von Sünde besessen? Wen kümmert das heute? Luthers Probleme scheinen sich überlebt zu haben.
Aber was steckt hinter den Worten? Was hat den Mann aus Wittenberg gequält? Was hat ihn so unter Druck gesetzt?
Luther hatte die Höllenangst, vor Gott nicht zu bestehen. Er hat sich verzweifelt gefragt: Was kann ich vorweisen, damit mir Gott gnädig ist? Heute sagen wir das anders. Leistung, Perfektion, Selbstoptimierung sind Stichworte, die beschreiben, was Menschen antreibt und was an vielen Stellen erwartet wird. Nicht nur am Arbeitsplatz. Bin ich richtig? Gut genug? Reicht das, was ich tue? Man muss nicht erst krank werden, um den Druck zu spüren, der hinter diesen Fragen steht.

Musik 1: Aus tiefer Not ,N° 8 instrumentale Einleitung Takt 1-16 

„Gib mir keinen Like“ heißt eine Kampagne der Evangelischen Frauen in Hessen-Nassau. Es scheint wie ein Spaß, und hat doch zwei Seiten. „Wir leben in einer Bewertungsgesellschaft“, sagen die Frauen. „Ob Facebook, Twitter oder Amazon, ständig werden wir aufgefordert, unsere Bewertung abzugeben. So sollen andere Menschen oder Dinge, Restaurants, Reiseanbieter oder Geschäfte noch besser und attraktiver werden.“ Doch oft passiert auch das Gegenteil: Menschen werden beleidigt und verletzt durch negative Bewertungen, bei anderen entsteht eine regelrechte Bewertungssucht: Ich bin nur das wert, was andere an mir „liken“.

Martin Luther stammt aus einem aufstrebenden Bergbauunternehmen. Sein ehrgeiziger Vater führt die Familie mit strenger Hand. Für seinen Ältesten hat er feste Pläne. Er soll Jura studieren, Rechtsberater des Vaters werden, dessen eigenen Aufstieg fortsetzen. Strafen und Schläge gehören in seiner Erziehung zur Tagesordnung. Angst war für Luther von Kindheit an das vorherrschende Lebensgefühl. Angst vor dem Vater, Angst vor den Lehrern, Angst vor dem Teufel, Angst vor Gott, der alles sieht und straft.

Durch sein Mönchsgelübde hat er sich den Plänen des Vaters entzogen. Aber wenn er erwartet hat, im Kloster Ruhe und inneren Frieden zu finden, dann hat er sich getäuscht. An die Stelle der väterlichen Strenge treten nun die strengen Ordensregeln der Augustiner Eremiten. Der Druck, alles richtig zu machen. Fehler werden angezeigt. Gespräch und Lachen sind verboten. Austausch mit anderen unerwünscht. Manche unter seinen Mönchsbrüdern konnten das leichter nehmen. Luther aber hat ein feines Gewissen, hat sich den Druck von außen zu Herzen genommen. Er weiß ja: Gott kann ich nichts vormachen. Da half es auch nichts, dass sein Lehrer ihm klar zu machen versuchte: „Euer Gedanke ist nicht Christus.“ Er hat sich mit seinen eigenen Ansprüchen selber unter Druck gesetzt. Den Knoten immer enger gezogen.

Er ist Priester geworden, dann Doktor und Professor der Theologie. Bald war er der zweiwichtigste Mann seines Ordens in ganz Deutschland. Eine glänzende Karriere – aber diese Fragen sitzen fest in ihm, quälen ihn wie ein Stachel im Herzen: Bin ich richtig? Bin ich gut genug? Reicht das, was ich tue?

Musik 2: N° 5 Wo dein Herz ist, da ist dein Gott, Takt 1-34

Luther sitzt in seiner Studierstube im Turm des Augustinerklosters in Wittenberg. Wie eingesperrt fühlt er sich in seine Gedanken und Gefühle, die immer um das Gleiche kreisen. „Ich soll durch die Lehre und die Übungen ein neuer Mensch werden und werde es doch nicht. Auch durch die Messe, auch durch alles Kasteien und Fasten bekomme ich doch das nicht, was ich ersehne: Die Liebe zu Gott und den Menschen, den inneren Frieden und die wahre Ruhe.“
Vor ihm liegt die aufgeschlagene Bibel. Ein Vers aus dem Römerbrief. „Darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ (Römer 1,17 ) Er will den Text für seine Studenten auslegen und versteht doch selber nicht, was er liest.

Und dann löst sich der Knoten. Was vorher im Dunkeln lag, leuchtet hell und klar. Später, im Jahr vor seinem Tod  beschreibt er diese Erfahrung so:
„Ich war von einer wundersamen Leidenschaft gepackt worden, Paulus in seinem Römerbrief kennenzulernen, aber bis dahin hatte mir… ein Wort im Wege gestanden … Ich hatte nämlich das Wort „Gerechtigkeit Gottes“ zu hassen gelernt, das ich … als die Gerechtigkeit zu verstehen gelernt hatte, mit der Gott gerecht ist, nach der er Sünder und Ungerechte straft. … Endlich achtete ich …durch Gottes Erbarmen auf die Verbindung der Worte, nämlich…: “Der Gerechte lebt aus dem Glauben“. Da habe ich angefangen, die Gerechtigkeit Gottes so zu begreifen, dass der Gerechte durch sie als durch Gottes Geschenk lebt, …Nun fühlte ich mich ganz und gar neugeboren und durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten.“

Das gibt es. Jemandem geht ein Licht auf. Ein Lebensknoten löst sich. Man hat lange daran gearbeitet. Nach Lösungen gesucht. Sich beraten. Und auf einmal ist es da. Was man gesucht hat - oder etwas ganz anderes. Etwas, das mich gefunden hat. 
„Gipfelerfahrungen“ nennt das die Psychologie. Das kann eine erhebende Erfahrung in der Natur sein. Ein starkes Gefühl des Glücks, des Einklangs mit mir und der Welt. Tiefe Freude beim Hören von Musik. Intensive Gemeinschaft. Ein Moment großer Gelassenheit und tiefen Friedens. Vielleicht nur ein Augenblick. Aber die Welt ist eine andere geworden.

Was war für Luther die große Befreiung? Was hat den Knoten gelöst im Kopf und im Herzen? Er, der unter dem Druck stand, alles richtig zu machen, es Gott recht zu machen, hat verstanden: Nicht ich, Gott macht mich gerecht! Ich bin ihm recht, weil er mich liebt. Ich muss mir die Liebe nicht erarbeiten. Sie ist mir geschenkt in Christus. Und „Christus“, so seine Erkenntnis, „ist nicht in sich, sondern in uns“. Befreiung geschieht nicht durch mehr, sondern durch Nicht-Tun. Weil alles schon da ist.
So wie ihn einmal im Gewitter die Angst erschüttert hat, erschüttert ihn jetzt die Liebe. Ein Fenster in seinem zugemauerten Turm öffnet sich, er sieht anders in die Welt. Schaut in den Garten. Sieht die Blumen, hört die Vögel  - und kann selber neue Lieder singen.

Musik 3: N° 12 Die beste Zeit im Jahr ist mein

„Es gibt dich
weil Augen dich wollen
dich ansehen und sagen
dass es dich gibt“ -  dichtet Hilde Domin.

Angesehen werden von Augen, die mich wollen. Die mich sehen. Mir Ansehen schenken. Das ist ein Grundbedürfnis. Kinder brauchen das, wenn sie auf die Welt kommen: Dass Augen sie freundlich ansehen. Dass Hände sie berühren. Dass Arme sie halten. So können sie Vertrauen entwickeln. In die Welt und in sich selber. Wer die liebenden Augen der Mutter und des Vaters nicht gesehen hat als Kind, sucht sie oft ein Leben lang. Therapeuten, die Menschen begleiten, die  berichten, dass die Erfahrung bedingungsloser Liebe durch andere zu der großen Wende und Befreiung führen kann. Martin Luther ist ein Beispiel, dass es dafür nie zu spät ist.
Wie oft hat er im Evangelium gelesen! Aber es annehmen. Es wahr sein lassen. Sich selber wahr sein lassen als ein geliebter und liebenswerter Mensch – das war sein Durchbruch. Glauben nicht nur denken, sondern fühlen. Vertrauen leben. Mit allen Sinnen, in allen Zellen.

Diese Erfahrung hat unglaubliche Kräfte in ihm frei gesetzt. Ihn zu seiner Kraft befreit. Christsein hieß für ihn jetzt nicht länger: Für wahrhalten, was andere vorschreiben, sondern: im Glauben Freiheit finden. Freiheit von inneren Zwängen und Ängsten. Freiheit gegenüber den Kirchenoberen. Freiheit zu Sexualität und Ehe. Zum Bruch mit Konventionen und festgeschriebenen Regeln. Freiheit, schöpferisch tätig zu werden.
„Von der Freiheit eines Christenmenschen“ heißt eine seiner Schriften. Darin schreibt er von der Freiheit, wie er sie selber erlebt.  Sie hat eine doppelte Ausrichtung: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.“ und: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“  In Freiheit Gutes tun. Sich einsetzen für andere. Nicht weil man muss, sondern weil man möchte. Weil die Liebe es will.

Das hat gezündet. Wie ein Lauffeuer ging Luthers Erkenntnis durch das ganze Land. Sie hat vielen zu einem neuen Selbstbewusstsein verholfen. Nicht nur in der Kirche. Auch  unser modernes Menschenbild, unser Verständnis von Menschenwürde und Menschenrechten hat hier seine Wurzeln. Luthers Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen motiviert bis heute Menschen in aller Welt zum Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Der Komponist Jean Kleeb hat in seinem Weltmusikoratorium beides miteinander verbunden. Luthers Reformationslied tritt in Dialog mit dem Spiritual „Free at last!“ 

Musik 4: N° 17, Takt 1-49 Ein feste Burg ist unser Gott – Free at last!

„Ich bin gut, ich bin ganz, ich bin schön“ (Elisabeth Moltmann-Wendel) – so haben feministische Theologinnen Luthers Erkenntnis für unsere Zeit zusammengefasst.

Ich bin das, was ich bin, nicht durch das, was ich leiste. Ich bin gut, weil ich bin. Weil Gott mich liebt. Mein Sein geht meinem Tun voraus.

Ich bin gut  - und ich bin ganz. Ein Mann, eine Frau mit Leib und Seele. Mein Kopf ist beileibe nicht alles! Als Mensch „ganz“ sein heißt auch: Ich bin nicht perfekt. Ich bin zu 50 % auch schwach. Und ich lasse diese Schwäche wahr sein. Traurig sein, krank werden, alt sein – das ist kein Unglück, sondern das bin ich in meiner Ganzheit.  Ich sage „ja“ zu mir. Akzeptiere, nein: liebe mich, wie ich bin. Ein geliebtes Kind Gottes. Das macht mich schön.

Diese Erfahrung können wir unseren Kindern auf ihren Weg ins Leben mitgeben: „Ich bin schön!“ Ihre Stärken loben, statt ihre Fehler zu kritisieren. Kinder werden schön, wenn wir sie schön finden.
Auf dem Nährboden von Liebe und Akzeptanz gedeiht Freiheit. Ich freue mich, wenn andere das „liken“, was ich tue. Aber ich bin davon nicht abhängig. Ich mache mein Ding, auch wenn das nicht alle gut finden. Freiheit- auch in der anderen Ausrichtung: Ich muss mich selber nicht so wichtig nehmen. Kann von mir wegsehen. Anderen Raum geben. Für sie da sein, sie ermutigen und unterstützen.
Solche Freiheit hat man nicht. Sie ist ein Weg, wie der Glaube ein Weg ist. Auch für Martin Luther war das Turmerlebnis in Wittenberg nur eine Station auf dem der Weg der Freiheit. Dabei ist er auch auf Irrwege geraten und in Sackgassen gelandet. Nicht darin ist er ein Vorbild, das er alles richtig gemacht hat. Sondern dass er nicht aufgehört hat zu suchen.

„Das Leben“, so sagt er, „ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden,
nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden,
nicht ein Sein, sondern ein Werden,
nicht eine Ruhe, sondern eine Übung.
Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber.
Es ist noch nicht getan oder geschehen,
es ist aber im Gang und im Schwang.
Es ist nicht das Ende, aber es ist der Weg. 
Es glüht und glänzt noch nicht alles,
es reinigt sich aber alles.“

Musik 5: N°18 „Im Werden“, Takt 1-56 

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