Von Gott lernen und das Herz anschauen
Manchmal stecke ich Menschen in Schubladen. Eine kurze Begegnung reicht da schon. Eine bestimmte Verhaltensweise; eine auffallende äußerliche Erscheinung; was jemand sagt oder nicht. Ach so einer ist das, denke ich dann. Schublade auf. Du gehörst zu denen. Schublade zu.
Mit Schubladen zu arbeiten ist menschlich. So arbeitet unser Gehirn. Doch es ist gut, wenn wir Situationen erleben, in denen die Schubladen wieder aufgehen.
So habe ich es bei einem Arztbesuch erlebt. Ich betrete das Wartezimmer. Ich bin ziemlich angespannt, denke an meine Behandlung. Wie jeder mustere ich die anderen im Wartezimmer – wie verhalten sie sich, wie erscheinen sie mir? Ich nehme Platz und schaue mich um.
Männer, Frauen, junge und alte. Eine mit schickem Outfit, ein anderer im Alltagsgewand. Eine hält die Hand ihres Mannes, ein anderer ist nonstop mit dem Smartphone beschäftigt. Ich komme ins Nachdenken. Wie es den anderen wohl geht? Ob sie auch Sorgen haben oder Angst? Wartet zu Hause jemand auf sie oder müssen sie mit der Situation alleine zurechtkommen?
Obwohl ich die Leute nicht kenne, sind sie mir plötzlich sehr nah. Weil wir in der gleichen Situation sind. Wir brauchen einen Arzt. Wir machen uns Sorgen und haben die Hoffnung, dass es wieder gut wird. Plötzlich ist es egal, wer welche Kleidung trägt; oder ob einer versucht, sich mit dem Smartphone abzulenken.
Mir ist der Moment im Wartezimmer sehr eindrücklich im Bewusstsein: Als Mensch sehe ich erst einmal nur was vor Augen ist – und packe mein Gegenüber in Schubladen. Wenn etwas Zeit vergeht, vermag ich vielleicht, die Schubladen wieder zu öffnen und fange an zu verstehen, was es heißt: Der Mensch sieht was vor Augen ist, Gott sieht das Herz an (Erstes Buch Samuel, Kapitel 16, Vers 7).
