Staunen
Stefan kommt von einer Urlaubsreise zurück. Er steigt in Kassel um. Auf dem Bahnhof Wilhelmshöhe steht eine junge Frau. Sie wartet mit ihm auf den nächsten Zug. Die Frau ist ungefähr 20 Jahre alt. Sie ist sehr mager und trägt nur ein dünnes Kleid, obwohl es kalt ist. Man sieht, wie sie friert.
Während sie auf ihren Zug wartet, geschieht etwas Unglaubliches:
Eine andere Frau kommt auf den Bahnsteig. Sie ist ungefähr 40 Jahre alt und trägt einen warmen Mantel.
Auf einmal zieht diese Frau ihren Mantel aus. Darunter trägt sie noch eine Jacke. Sie zieht ihre Jacke aus und legt sie der jungen Frau über die Schultern. Dann schlüpft sie wieder in ihren Mantel und geht weiter.
Stefan staunt. So etwas hat er noch nie erlebt. Ob die Frauen sich kennen? Vielleicht? Vielleicht auch nicht.
Stefan hat mir seine Geschichte erzählt, weil sie ihn so bewegt und beeindruckt hat. Eine Frau sieht die Not einer anderen Frau und sie sieht, was sie hat. Nämlich eine Jacke und einen Mantel. Die Frau hilft, sie gibt ihre Jacke ab und geht dann weiter.
Spontan zu helfen, großzügig sein und entschlossen handeln-das beeindruckt Stefan.
Mir fällt dazu die Geschichte vom Heiligen Martin ein, der seinen Mantel mit dem Bettler am Stadttor geteilt hat. Ob diese 40jährige Frau auch eine Heilige ist? Vielleicht, denn heilig heißt zu Gott gehörig. Im Sinne Gottes hat sie auf jeden Fall gehandelt, als sie ihre Jacke der frierenden Frau gegeben hat. Und Stefan hat gestaunt. Ich bin mir sicher, dass beiden Frauen an diesem Tag warm geworden ist, Stefan sicher auch. Und mir auch, weil ich ihnen diese Geschichte erzählen kann.
