Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Öffnungen
alan_robb_pixabay

Öffnungen

Anke Jarzina
Ein Beitrag von Anke Jarzina, Katholische Pastoralreferentin in der Pfarrei St. Peter und Paul in Wiesbaden
Beitrag anhören:

„Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein.“ Das ist ein Lieblingsspruch eines Freundes von mir. Ich mag diesen Spruch nicht besonders, er klingt für mich irgendwie nach Ungeselligkeit, nach „Bleib mir ja vom Leib“. Vielleicht liegt es daran, dass ich eher ein offener Typ bin. Ich gehe gerne auf Menschen zu, ich bin neugierig auf das, was andere denken und sagen und finde es sogar spannend, wenn Leute andere Auffassungen haben als ich. Also: Ich bin für alles offen.

Aber „nicht ganz dicht“? Das will ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich finde, offen sein ist eine wichtige Ressource, gerade in meinem Beruf für die Kirche. Jesus war schließlich auch offen für alle möglichen Lebenswirklichkeiten. Er hat alle an sich rangelassen, auch die sogenannten Sünder, mit denen er viel gefeiert hat.

Effata - Öffne dich

Es gibt eine Geschichte in der Bibel, da öffnet Jesus sogar einen anderen Menschen: Er legt einem Taubstummen die Hände auf die Ohren und den Mund und sagt „Effata!“, das bedeutet: „Öffne dich!“. Und dann wird erzählt: „Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit und er konnte richtig reden.“ (vgl. Markusevangelium, Kapitel 7, Vers 31-37). An anderer Stelle spricht ein Blinder Jesus an. Und Jesus stellt ihm eine bemerkenswert offene Frage. Nicht etwa: „Soll ich dich heilen?“ Oder: „Du willst doch bestimmt wieder sehen können, oder?“, sondern: „Was willst Du, das ich dir tue?“ (Markusevangelium, Kapitel 10, Vers 51). Für mich steckt darin die Haltung: „Ich bin vollkommen offen für das, was DU jetzt brauchst, was du willst. Ich bin bereit, auf dich und deine Anliegen, deine Bedürfnisse zu hören.“ Und nach dieser offenen Frage Jesu öffnet sich dann auch etwas in dem Blinden: Er kann wieder sehen, seine Augen sind wieder offen! (Markusevangelium, Kapitel 10 Vers 52). 

Offen sein - ein Wesensmerkmal christlichen Glaubens

Es gibt viele solcher Öffnungsgeschichten in der Bibel. Schon im Alten Testament öffnet Gott die Grenzen der Sklaverei und führt sein Volk in die Freiheit. Dann, im Neuen Testament, die Geschichte von Ostern: das offene Grab. So gesehen ist das Offen-Sein geradezu ein Wesensmerkmal christlichen Glaubens!

Deshalb will ich auch offene Ohren haben. Zum Beispiel für Geschichten, die mir Menschen anvertrauen und in denen ganz viel von dem steckt, was ich „Gott“ nenne. Ich will auch dann zuhören, wenn es mir schwer fällt, wenn ich vielleicht Kritik einstecken muss und erst später einsehen kann: die war berechtigt. Und ich will offene Augen und Ohren haben für all die Sorgen, die viele Leute mit sich durch den Alltag schleppen und kaum ins Wort bringen können.

Sich endlich wieder frei bewegen können

Sich öffnen: Wie gut das tut, haben wir vor ein paar Wochen gespürt, als die Geschäfte wieder aufgemacht haben, dann die Restaurants und später auch andere Einrichtungen des öffentlichen Lebens. Öffentlich: da steckt ja das Sich-Öffnen schon drin. Öffentliches Leben ist Freiheit: endlich wieder raus gehen, das Leben genießen, Menschen treffen. Am liebsten hätten wir noch mehr davon: Endlich mal wieder eine große Menschenansammlung ohne Abstand, sich wieder umarmen können: Das wäre toll! Die Einschränkungen, die jetzt noch gelten: die fühlen sich schon echt mies an, tun fast schon weh, so sehr beschränken sie mich in meiner Freiheit.

Wohl und Bedürfnisse anderenrbegrenzen meine Freiheit

„Wer für alles offen ist, der kann nicht ganz dicht sein.“ Ich glaube, da passt der Spruch meines Freundes wieder ganz gut. Denn: Alles gleichzeitig öffnen, für alles offen sein: Das wäre im Fall von Corona ziemlich leichtsinnig gewesen, fast verrückt. „Nicht ganz dicht“ eben. Ich denke, es ist schon gut, dass alles peu à peu voran geht. Weil ich davon überzeugt bin: Mein Offen-Sein und mein Recht auf Offenheit und Freiheit stößt da an seine Grenzen, wo das Wohl meiner Mitmenschen auf dem Spiel steht. So ungewohnt das für mich als offenen Menschen auch klingt: Manchmal ist es eben wirklich besser, eher verschlossen zu bleiben.

Wahrnehmen, was andere brauchen

Offen-Sein ist gut – aber: Es soll auch immer im Blick haben, was die Menschen um mich herum brauchen. Dabei geht es gar nicht darum, mein Fähnchen nach dem Wind zu hängen oder es anderen Recht zu machen. Das wäre keine Offenheit im Sinne Jesu, glaube ich. Es geht schlicht und einfach um Verantwortung. Und um die  Haltung: Die Bedürfnisse des anderen sind genauso wichtig wie meine eigenen. Manchmal kann das ganz schön lästig sein, zum Beispiel, wenn ich immer an den Mundschutz denken muss beim Einkaufen. Oder wenn ich Abstand halten muss, obwohl ich den anderen gerne umarmen würde. Solche Einschränkungen auf sich zu nehmen – für andere - ist nicht bequem, aber manchmal eben notwendig.

Sich nicht überfordern

Trotzdem: Genauso wie die Grenzen der anderen muss ich auch meine eigenen Grenzen respektieren: Ich muss nicht alles tun, was andere von mir erwarten, und ich muss auch nicht so sein, wie andere mich gerne hätten. Ich muss nicht über meine Grenzen hinauswachsen. Ich will lieber lernen, diese Grenzen zu erkennen und rechtzeitig „Stopp!“ zu sagen, wenn mir jemand zu weit geht oder wenn ich mich selbst überfordere. Für alles offen sein: Das ist nicht immer gesund.

Eigene und fremde Grenzen erkennen und einhalten

Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein.“ Ja, ich glaube, das ist wichtig: Ich will die Grenzen anderer und die eigenen respektieren und auch mal dicht machen, wenn es nötig ist.

Aber vor allem will ich mich offen halten für all das, was mir entgegenkommt: für die Dinge, die mir im Leben so passieren. Für die Menschen, die mir begegnen. Und: Ich will mich nicht verschließen, sondern sozusagen durchlässig sein für fremde Wirklichkeiten, andere Sinnerfahrungen und Lebensdeutungen. So, wie Jesus es war. Und tatsächlich: Es gibt diese Grundhaltung auch in der katholischen Kirche, obwohl man der Institution in genügend Bereichen viel zu viel Verschlossenheit vorwerfen kann, und das zurecht. Aber: Bei einer großen bischöflichen Versammlung in Rom, Anfang der 1960er Jahre, dem Zweiten Vatikanischen Konzil, da war diese jesuanische Offenheit zu spüren, glaube ich. Jedenfalls hab ich diesen Eindruck, wenn ich heute mal einen Blick in die Dokumente werfe. Einer meiner Lieblingssätze lautet so: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ (Pastorale Konstitution „Gaudium et Spes“, Über die Kirche in der Welt von heute, Absatz 1).

Die Kirchenfenster öffnen und frischen Wind hereinlassen

Als Papst Johannes XXIII. damals das Konzil ankündigte, hat er dazu aufgerufen, die Fenster der Kirche zu öffnen und frischen Wind hereinzulassen. Frischer Wind durch die geöffneten Fenster: Dieses Bild macht deutlich: Kirche darf sich gar nicht abgrenzen von der Welt. Sie darf nicht „dicht machen“ und um sich selber kreisen. Ihr Auftrag ist es, sich den Menschen zu öffnen, ihnen zuzuhören, ihre Fragen aufzugreifen und zu verstehen, woran sie leiden und worüber sie sich freuen.

Sich mit offenen Armen von anderen berühren lassen

Es ist unglaublich traurig, dass viele, gerade in den verantwortlichen Positionen, diesen Aufruf nicht gehört haben oder nicht hören wollen. Aber: Es ermutigt mich ungemein, immer wieder neu zu begreifen: Das ist die eigentliche Botschaft Jesu: Offen-Sein, behutsam nachfragen, hinhören, geduldig abwarten, sich öffnen für das, was Menschen brauchen. Und dann die Arme weit öffnen und das, was gebraucht wird, geben. Nicht dicht machen und sagen: „Nö, das kriegst du von mir nicht, bleib mir damit bloß vom Leib!“. Es geht darum, sich berühren zu lassen von dem, was ist. Das ist die Offenheit, mit der ich durchs Leben gehen will. Die ist vielleicht wirklich nicht immer ganz dicht und wirkt manchmal auch etwas verrückt. Aber ich glaube: In dieser Offenheit wird Liebe offenbar: zu den Menschen, zu Gott und zu der Welt, in der ich leben darf.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren