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Moral im Doppelpack
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Moral im Doppelpack

Dr. Joachim Schmidt
Ein Beitrag von Dr. Joachim Schmidt, Evangelischer Pfarrer, Darmstadt

Der ADAC hat Menschen gefragt: Finden Sie es normal, dass bei einem Unfall auf der Autobahn die Vorbeifahrer ausgiebig hinschauen, was passiert ist? Nur 1,4 Prozent der Befragten finden das normal. 98,6 Prozent haben ein solches Verhalten verurteilt. Das heißt doch, Gaffer an Unfallstellen dürfte es eigentlich so gut wie nicht geben.

Aber die Erfahrung auf der Autobahn ist eine andere. Es können ja eigentlich nicht immer die gleichen 1,4 Prozent Autofahrer sein, die sich bei Unfällen zusammenrotten. Also gibt es auch unter den 98,6 Prozent nicht wenige, die bei der Befragung zwar eine moralisch hochstehende Antwort gegeben haben, sich aber ganz anders verhalten. Ich wurde zwar nicht gefragt. Aber bei einem Unfall auf der Gegenfahrbahn kann ich auch nicht dafür garantieren, dass ich nicht leicht auf die Bremse gehe und hinüberschaue. Tun, was man eigentlich verurteilt: Das Gefühl kenne ich.

Eine Kluft durchzieht unser Leben, und sie zeigt sich nicht nur bei den Gaffern. Überzeugungen sind die eine Sache, das eigene Handeln eine andere. Deshalb gebe ich nichts auf Umfragen, in denen moralische Einstellungen abgefragt werden. Das Gute wird immer Spitzenwerte erreichen. Mit dem wirklichen Leben haben die Ergebnisse wenig zu tun. Ein exzellenter Menschenkenner, der Apostel Paulus in der Bibel, hat das einmal – interessanterweise in der Ich-Form – so ausgedrückt: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ (Römer 7,19)

Moral kommt von lateinisch mores, und das sind die Sitten: also das, was man üblicherweise tut. Moral ohne entsprechendes Handeln gibt es nicht. Fehlt die Handlung oder ist sie ganz anders, spricht man von einer Doppelmoral. Vielleicht wäre richtiger: Moral im Doppelpack.

Moral im Doppelpack ist bisweilen tödlich. Sie ist aber auch, wie alle Doppelpacks, billig und unauffällig und weit verbreitet. Sie erlaubt feste Überzeugungen ohne Risiko, weil im Ernstfall schnell die andere Moral einspringen kann. Die Lebenserfahrung lehrt sogar: Je lauter die vorgetragene Moral, desto leiser verdrückt sie sich meist später durch den Hinterausgang. Irgendwie scheint das zur Spezies Mensch zu gehören: So tun, als ob. Aber ist das auf Dauer ein Leben? Paulus wusste das. Er sagte: Ich.

Ich kann mir kaum vorstellen, dass ihm das leichtgefallen ist. Das ehrliche Ich ist der erste, schmerzliche Schritt zu einem Abschied von der Doppelmoral und hin zu einer größeren Wahrhaftigkeit. Die Erkenntnis, dass Reden und Handeln bei mir selbst immer wieder auseinanderfallen, tut weh, und das vermeide ich nur allzu gerne. Aber auf dem Weg zu einem wahrhaftigen Ich mit einer einzigen, wirklichen Moral ist dieser Schritt unvermeidlich. Paulus hat diesen Weg immer wieder als lebenslangen Kampf beschrieben. Und als Lebensaufgabe.

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