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Inklusion - Blinde

Inklusion - Blinde

Anne-Katrin Helms
Ein Beitrag von Anne-Katrin Helms, Evangelische Pfarrerin, Erlösergemeinde Frankfurt-Oberrad

Im Kaufhaus stöberte ich nach Sportkleidung. Ich brauchte Hilfe. Aber der Verkäufer war noch mit zwei Männern beschäftigt. Die beiden wollten gute Fußballschuhe kaufen. Irgendwas war besonders an ihnen. Ich schaute genauer hin und sah: Der eine tippte dem anderen mit seinen Fingern in die offene Hand. Dazwischen redete der Mann mit dem Verkäufer. „Welche Farbe haben die Schuhe?“ fragte er; und: „Darf ich bitte mal die Spikes fühlen?“ Jetzt kapierte ich: Die beiden waren blind. Und offenbar war einer von beiden auch noch gehörlos. Deshalb das Schreiben in der Hand. Der Verkäufer hat professionell und mit großem Respekt beraten.

Ich habe den Mund nicht mehr zugekriegt vor Staunen: mit viel Fachkenntnis ließen sich die beiden beraten, welche Schuhe für welchen Rasen geeignet sind, Größe, Farbe, Leichtigkeit. Alles tippte der blinde Mann dem blindtauben Mann in die Hand. Der gab Antwort, in dem er dem Freund auch seine Worte in die Hand schrieb. Schlussendlich waren sie zufrieden, gingen mit ihren Blindenstöcken zur Kasse und bezahlten.

Früher hieß es noch: „Wenn ein Blinder den andern führt, so fallen sie beide in die Grube.“ So steht es im Matthäusevangelium. (Mt 15,14) Pieter Bruegel hat zu dem Spruch aus der Bibel ein Bild gemalt. Es heißt „Der Blindensturz“. Auf dem sieht man, wie eine ganze Reihe von Blinden sich an den Händen fasst. Sie laufen diagonal von links oben nach rechts unten durchs Bild und fallen dann in ein Loch. Der „Blindensturz“ wirkt so, als könnte es anders nicht sein. Na klar,,wie soll das gut gehen, wenn ein Blinder einen Blinden führt?

Aber es kann gut gehen. Ich habe es gesehen und es hat mich beeindruckt. Ein Blinder kann einen Blinden führen. Sie können einkaufen und sich in einem Kaufhaus sicher bewegen. Mit Blindenstock und Braille-Schrift ist das möglich. Keine Frage: Behinderungen beeinträchtigen massiv den Alltag. Aber der Umgang mit ihnen muss nicht statisch sein. Ich bin nicht rettungslos aufgeschmissen. Ich darf Hilfen annehmen, die mir das Leben erleichtern.

Ich persönlich habe das Glück, sehen und hören zu können. Aber auch bei mir gibt es unverrückbare Grenzen. Die einen muss ich einfach hinnehmen. Über die andern komme ich mit der Zeit hinweg, wenn mir jemand hilft. Wahrscheinlich sind dabei gerade die Menschen hilfreich, die mein Problem aus eigener Erfahrung kennen.

Mir hat zum Beispiel mal eine junge Nachbarin die Angst vorm Autofahren genommen. Jahrelang habe ich nur die Wege gewählt, die ich besonders gut kannte. Die junge Frau ist mit mir ein paarmal nachts bei wenig Verkehr durch die Stadt gefahren. Sie hat mit mir geübt, Vertrauen zu fassen. Und sie gab mir Tipps. Sie konnte es, weil sie selbst anfangs auch unsicher war beim Autofahren. Überallhin und jederzeit mit dem Auto fahren zu können – das hat mir das Leben erleichtert und neue Möglichkeiten eröffnet.

„Wenn ein Blinder den andern führt, so fallen sie beide in die Grube.“ Der Spruch aus dem Matthäusevangelium gilt heute für viele Menschen mit Einschränkungen beim Sehen Gott sei Dank nicht mehr. Wie gut, dass es viele neue Methoden gibt und Hilfsmöglichkeiten. Im übertragenden Sinn ist immer noch was dran. Da mahnt er mich, weiter zu lernen und mich um neue Möglichkeiten zu bemühen, wo ich anderen und mir helfen kann. Dafür hat Gott das Herz und den Verstand geschenkt.

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