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Gewalt überwinden
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Gewalt überwinden

Thomas Zels
Ein Beitrag von Thomas Zels, Pastor, Freie evangelische Gemeinden Marburg

In Nordirland tobte ab den 70er Jahren bis 1998 der Bürgerkrieg zwischen katholischen Iren und protestantischen Briten. Schon seit Jahrhunderten gab es diesen Konflikt. Am 10. August 1976 versuchten in Belfast zwei irische Untergrundkämpfer ihrer Verhaftung zu entkommen. Auf der Flucht, bei einem Schusswechsel mit britischen Soldaten, erfasste ihr Auto eine Frau und deren drei kleine Kinder, darunter ein Baby. Die Mutter überlebte schwer verletzt, alle drei Kinder starben.

Das sah eine Nachbarin namens Betty Williams. Sie war geschockt. Und sie beschloss: Sie muss etwas tun gegen diese ständige Gewalt. Sie ging von Haus zu Haus, um ihre Nachbarn aufzurütteln. Sie gründete die Aktionsgruppe Women for Peace, Frauen für den Frieden. Als Betty Williams wenig später zu Demonstrationen gegen den Bürgerkrieg aufrief, versammelten sich zehntausende Menschen. Das Fernsehen berichtete über ihr Engagement und über ihren Aufruf gegen Gewalt und für Versöhnung. Innerhalb kurzer Zeit erlebte sie eine große Welle der Unterstützung. Einige Tage nach der Beerdigung der drei getöteten Kinder verfasste Betty Williams mit ihrem Team die Declaration of Peace People, die Erklärung der Friedenswilligen. Sie bestand aus wenigen, einfachen Sätzen. Zum Beispiel: „Wir wollen leben und lieben und eine gerechte und friedliche Gesellschaft aufbauen. Wir lehnen die Bombe und die Kugel und alle Techniken der Gewalt ab. Wir erkennen an, dass uns der Aufbau eines solchen Lebens harte Arbeit und Mut abverlangt. (https://en.wikipedia.org/wiki/Betty_Williams_(Nobel_laureate)#Declaration_of_the_Peace_People, www.peacepeople.com/PPDeclaration.htm)

Zu den nächsten Friedensdemonstrationen kam eine halbe Million Menschen in Nordirland und ganz Großbritannien. Ein Jahr später bekam Betty Williams den Friedensnobelpreis. Als beeindruckendes Beispiel dafür, wie Menschen der Gewalt entgegentreten können. Indem sie nicht mehr mitmachen bei der Ausgrenzung. Indem sie die Gewalt nicht mehr hinnehmen. In der Bibel steht: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ (Römerbrief Kap.12,21)

Das ist eine Herausforderung. Aber wohl der einzige Weg, Gewalt zu stoppen. Nur: wie bekommt man das hin?

Ich rannte mal in Zeitnot, ohne mich umzuschauen, aus meinem Hauseingang und prallte gegen einen Passanten. Der war wütend und hat mich erst einmal beschimpft. Auch ich war erschrocken. Aber ich wollte mich nicht so beschimpfen lassen. Ich holte schon Luft, um zurück zu poltern, da hielt der Mann plötzlich inne und sagte: „Ich weiß nicht, wer von uns schuld ist. Ich will meine Zeit auch nicht damit vergeuden. Deshalb: Wenn ich schuld bin, dann verzeihen Sie mir bitte, dass ich nicht aufgepasst habe. Falls Sie schuld sind, soll es für mich keine Rolle spielen.“ Er lächelte, ging weiter und ließ mich im Hauseingang zurück. Ich war überrascht. Mein Ärger war weg.

Heute ist Palmsonntag. Und mit dem Palmsonntag beginnt die Karwoche. Sie erinnert daran, wie Jesus der Gewalt begegnet ist. Er schlug nicht zurück. Er hat darauf verzichtet, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Er wusste, dass Gegengewalt keine Lösung ist. Es gibt eine Spirale der Gewalt. Um nicht mitgerissen zu werden, muss man aussteigen. Das hat Jesus getan und damit den Weg zum Frieden eröffnet.

Martin Luther King, der amerikanische Pastor und Bürgerrechtler, hat es so ausgedrückt: „Die ultimative Schwäche der Gewalt ist, dass sie eine abwärts gerichtete Spirale ist, die genau das erzeugt, was sie zu zerstören sucht. Statt das Böse zu verringern, multipliziert sie es.“ Martin Luther King sagt weiter: „Durch Gewalt kann man zwar den Lügner ermorden, jedoch nicht die Lüge... Durch Gewalt kann man zwar den Hasser ermorden, jedoch nicht den Hass. Im Gegenteil: Gewalt erzeugt nur noch mehr an Hass...“ King war überzeugt: „Dunkelheit kann keine Dunkelheit vertreiben, nur Licht vermag das. Hass kann keinen Hass vertreiben. Nur Liebe vermag das.“ 

Dieses Licht, diese Liebe kennen Christen durch Jesus. Liebe zu allen. Selbst zu den Bösen. Jesus ging an Menschen, die Unrecht getan haben, nicht vorbei. Er half ihnen auf. Und selbst wenn ihm missfiel, was sie taten, hat er sie nicht verachtet. Die Liebe zu jedem war sein Markenzeichen. Das war nicht leicht. Die Karwoche, die heute anfängt, zeigt das. Jesus hat nicht zurückgeschlagen, als ihm Unrecht geschah. Er hat ertragen, was andere ihm angetan haben. Noch am Kreuz hat er zu Gott gebetet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ ( Lukas-Evangelium, Kap.23,34) Jesus zeigt, wie Gewalt und Böses entmachtet werden können. Durch Liebe, die aushält und erträgt. Jesus wollte, dass auch seine Nachfolger nicht sagen „wie du mir, so ich dir“, sondern: „wie Gott mir, so ich dir“.

Kann ich das auf meine Konflikte übertragen?

Wenn ich mich angegriffen fühle, dann regt sich als erstes der Gedanke: „Na warte, dir zahl‘ ich’s heim!“ Manchmal vermeide ich denjenigen auch und breche den Kontakt ab. Oder ich spüre die Versuchung, jemanden schlecht zu machen bei anderen. Damit ich selbst gut dastehe. Aber muss das so sein? Wie kann ich damit anfangen, anders zu reagieren?

Zum Glück fängt alles klein an. So wie in Nordirland. Betty Williams und ihre peace people, ihre Friedensmenschen wollten die Gewalt zwischen irischen Katholiken und protestantischen Briten nicht mehr hinnehmen. Sie haben bei ihrem Nachbarn begonnen – vor allem bei den Nachbarn, die einer anderen Konfession angehörten. Mit Kontakt, mit Reden. Sie hörten auf mit Urteilen und Zurückschlagen. Sie hörten auf, andere zu bekämpfen. Auch wenn sie nicht wussten, was daraus wird. Sie konnten nur darauf bauen, dass die Sehnsucht nach Frieden auch bei den anderen da ist.

War Betty Williams vielleicht besonders begabt für so was? Eigentlich nicht. Aber sie hatte in ihrem Leben viel sinnloses Leid erlebt. Schon ihr protestantischer Opa wurde gemobbt, weil er eine Katholikin geheiratet hatte. Die Ehe ihrer Eltern, und ihre eigene, litten unter den unterschiedlichen Kirchenzugehörigkeiten. Zwei ihrer Cousins wurden auf offener Straße getötet. Einer von der evangelischen, irischen Befreiungsbewegung, der andere von der katholischen.

Als Betty Williams dann aus nächster Nähe den Tod ihrer drei Nachbarskinder mit ansehen musste, da gab sie ihr unpolitisches Leben auf und fing an zu handeln.

So begann es. In ihrer Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises sagte sie: „Mitgefühl ist wichtiger als Intellekt, um die Liebe hervorzurufen, die die Friedensarbeit benötigt,…wenn wir kein Mitgefühl haben, …werden wir den Kampf sehr wahrscheinlich nur über Theorien führen.“

Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 war allerdings auch Betty Williams‘ erste Reaktion der Ausruf: „Nuke them!“ Also: Macht sie fertig! Vernichtet sie! Das hat Betty Williams bei einer Vorlesung an der Universität von Miami zugegeben. Trotzdem sagte sie dann, warum selbst hier die Reaktion nicht gewaltsam sein darf. Weil ein nachhaltiger Kampf gegen den Terrorismus nur zu gewinnen ist, wenn er nicht mit den gleichen Mitteln geführt wird, also nicht mit Fertigmachen und Vernichten.

Als Teenager wohnte ich eine Zeit lang in Altena in Westfalen. Auf meinem Schulweg war ein Händler, der oft Obst- und Gemüsekisten vor seiner Tür stehen hatte. Zusammen mit mir kamen da jeden Morgen scharenweise Schüler vorbei. Viele drängelten sich in den Laden, um was zu essen für den Vormittag zu kaufen. Aber einige haben auch geklaut. Das wurde anscheinend zum Sport – immer mehr haben mitgemacht. Darum hat der Händler mit der Zeit jeden Schüler verdächtigt. Manchmal kam er sogar hinter der Theke hervor und kontrollierte die Taschen. Alles ohne Erfolg.

Aber eines Tages hatte er eine Überraschung parat. Er saß freundlich vor seinem Laden zwischen den Kisten und bot jedem Schüler, der vorbeikam, ein Obststück an. Gratis! Dabei wünschte er uns einen guten Schultag und meinte, wir sollten morgen wieder vorbeikommen.

Ich habe nicht nachgefragt, ob anschließend weniger geklaut wurde. Ich weiß aber, dass wir auf dem Schulhof sehr anerkennend über ihn geredet haben. Er galt ab da als eine Art Freund, auf den wir nichts kommen ließen. Später war er für mich ein Beispiel für den Satz aus der Bibel: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Gewalt löst keine Probleme. Gegengewalt ebenso wenig. Nur Liebe kann das. Christen erfahren diese Liebe bei Jesus. Deshalb versuchen sie, peace people zu sein, Friedensmenschen.

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